Rethinking the Auslandsdeutsche. Respatializing Historical Narrative
Veranstalter: H. Glenn Penny (University of Iowa), Stefan Rinke (FU Berlin)
Bericht von:
Franka Bindernagel / Georg Fischer / Nadia Zysman, FU Berlin; Glen Goodman, Emory University; Frederik Schulze; WWU Münster;
E-Mail: <binderna@zedat.fu-berlin.de>; <g.fischer@fu-berlin.de>; <nadia.zysman@fu-berlin.de>; <gsgoodm@emory.edu>; <frederik.schulze@uni-muenster.de>
Ziel der Tagung war es, Deutsche, die außerhalb der nationalen Grenzen lebten, in den Blick zu nehmen und neue Erzählformen deutscher Geschichte zu diskutieren. Deutsche Migrant/innen hatten häufig eine weniger geografisch gebundene Vorstellung von Nation, und so nahmen sich die versammelten Forscher/innen – überwiegend Historiker/innen – vor, ebenfalls territoriale und gedachte Grenzen überwinden, um „deutsche Geschichten“, die sich in großer Vielfalt und in verschiedenen Räumen entfalteten, aufzuspüren. Zeitlich konzentrierte man sich auf das 19. und 20. Jahrhundert.
Stefan Rinke (Berlin) und H. Glenn Plenny (Iowa City/Berlin) hatten zu dieser Konferenz, die am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin stattfand, eingeladen. Rinke hatte seine Dissertation zu den deutsch-lateinamerikanischen Beziehungen während der Weimarer Republik verfasst und betreut zur Zeit am Lateinamerika-Institut mehrere Doktorand/innen, die über deutsche Migrant/innen in den Amerikas forschen. Penny ist mit einem Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung zu Gast in Berlin und arbeitet zum Thema „German Diasporic Communities in Latin America, 1830-2000“.
Das Spektrum bisheriger Forschungen zur deutschen Diaspora reicht von klassischen Untersuchungen internationaler Beziehungen über wirtschafts- und sozialhistorische Forschungen zu deutschen Kaufleuten, Industriellen und Siedlern bis hin zu Darstellungen deutscher Gemeinden, z.B. in Mexiko-Stadt und Buenos Aires. In den letzten zwei Jahrzehnten kamen kultur- und mentalitätsgeschichtliche Forschungen hinzu, die sich beispielsweise den Identitäten der Migrant/innen, Formen des Nationalismus oder den deutschen Gesangvereinen als Teil der Musikgeschichte widmeten. Durch kolonialhistorische Forschungen erweiterten sich die Kenntnisse über Deutsche in den ehemaligen Kolonialgebieten. Diese Forschungen bieten bereits einen breiten Überblick und tiefen Einblick in die deutsche Migrationsgeschichte, die jedoch nicht immer vom geschichtswissenschaftlichen Mainstream wahrgenommen wird. Hier setzte die Konferenz an, indem sie sich vornahm, Migrationsgeschichte stärker mit der allgemeinen deutschen Geschichte zu verknüpfen. Dementsprechend wurden nicht nur Spezialisten für die einzelnen Migrationsgeschichten eingeladen, sondern auch ausgewiesene Kenner der neueren und neusten Geschichte Deutschlands.
Die wichtigste Diskussion, die sich durch alle Panels zog, drehte sich um die Frage, wer überhaupt als Deutsche/r zu bezeichnen ist und ob nicht eine erhebliche Differenz zwischen der Selbstwahrnehmung der Menschen und den wissenschaftlichen, häufig konstruktivistisch geprägten Definitionen bestehe. Die Vortragenden stellten sehr verschiedene Akteure vor, die sich mit Zuschreibungen auseinandersetzen mussten, die mitunter ihre Staatsbürgerschaft wechselten, sich mit mehreren Nationen identifizierten oder sogar mit dem gesamten europäischen Raum. Zu den deutschen Gemeinden gehörten außerdem nicht nur Menschen aus den deutschen Ländern bzw. später aus dem Deutschen Reich, sondern auch aus Österreich-Ungarn, Russland und der Schweiz.
Der Eröffnungsvortrag von DAVID BLACKBOURN (Nashville) stellte das Thema der Tagung in den weiteren Kontext der Position Deutschlands in der Welt im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Blackbourn umriss dabei den theoretisch-methodologischen Wandel der letzten Jahrzehnte, durch den die räumliche Dimension historischer Prozesse jenseits nationalstaatlicher Container in den Mittelpunkt gerückt sei. Das heiße aber nicht, dass die Nation als Untersuchungsgegenstand unwichtiger geworden sei. Vielmehr gelte es, transnationale Akteure, Handelsnetzwerke und Wissenstransfers in die deutsche Geschichte zu integrieren. Blackbourn betonte, dass deutsche Akteure auch vor der Gründung des deutschen Nationalstaats in vielfältiger Weise transnational agierten, etwa im Rahmen der frühneuzeitlichen europäischen Expansion. Ein Großteil der später so genannten Auslandsdeutschen wanderte in Gebiete aus, die nicht unter deutscher Herrschaft standen. Die Vorstellung eines zu erhaltenden Deutschtums im Ausland sei in erster Linie eine Reaktion auf die Globalisierungsimpulse des späten 19. Jahrhunderts gewesen. Im Zuge des Ersten Weltkrieges lasse sich eine Radikalisierung und Entterritorialisierung der Deutschtumsvorstellungen feststellen.
Panel 1 mit dem Titel “Some Politics of Being German“ nahm die Beziehungen zwischen Staat und deutschen Gemeinschaften im Ausland in den Blick.[1] RUTH WITTLINGER (Durham) diskutierte zentrale politische Probleme sowie theoretische und methodische Fragen in Bezug auf die Deutschen in den ehemaligen Sowjetrepubliken. Die historische Forschung habe sich bislang auf die Themen Flucht und Vertreibung konzentriert. Dabei werfe die Entwicklung seit dem Ende des Kalten Krieges neue Fragen zur Selbstdefinition dieser (schrumpfenden) Gruppen als „Deutsche“ oder zur Beziehung zwischen deutschem Staat und Diaspora auf. PHILIPPA SÖLDENWAGNER (Braunschweig) beleuchtete im Anschluss die Beziehungen zwischen deutschen Siedlern und den Kolonialbehörden in Deutsch-Ostafrika vor dem Ersten Weltkrieg. Die Kolonialverwaltung bemühte sich in erster Linie um die Legitimität des deutschen kolonialen Projekts unter Kontrolle des Staates, unterband ungeregelte Landnahme, misstraute privaten oder genossenschaftlichen Siedlungsinitiativen und trug so zu der geringen Auswanderung nach Deutsch-Ostafrika bei. Nur vereinzelt könne man von Gemeinschaftsstrukturen deutscher Siedler sprechen.
Der zweite Konferenztag begann mit den Panel 2 “Ethnic Discourses: Some Other Politics of being German”. MALTE FUHRMANN (Istanbul) analysierte die Auslandsdeutschen im Osmanischen Reich, die bereits vor der Gründung eines deutschen Nationalstaates ausgewandert waren. Dabei ging er insbesondere der Frage nach, wie diese Migration von Seiten des Nationalstaates zur Bildung einer homogenen Vorstellung von Nation genutzt wurde. Die Idee des „Auslandsdeutschen“ sei somit eine Folge des Scheiterns, einen Nationalismus innerhalb Deutschlands zu konstituieren. HOI-EUN KIM (College Station) untersuchte die Rolle der japanischen Regierung für den Bedeutungswandel von „Deutschtum“ und „deutscher“ Kultur in Japan. Dabei betonte er die heterogene Sozialstruktur der Deutschen in Japan: Auf der einen Seite standen die auf eigene Initiative hin Ausgewanderten, auf der anderen Seite diejenigen, die im Rahmen japanischer Regierungsprogrammen migrierten. FREDERIK SCHULZE (Münster) diskutierte am Beispiel der deutschsprachigen Migrant/innen in Südbrasilien die Probleme des Begriffs „Auslandsdeutsche“. Der Begriff entstamme einem zentralen politischen Projekt und blende gezielt die Heterogenität von Migrationserfahrungen aus.
Das dritte Panel „Places, Spaces, and the Search for Heimat“ nahm die Frage nach der Bedeutung von „Heimat“ in den Blick. LIZE KRIEL (Pretoria) beschäftigte sich anhand von südafrikanischen und deutschen Zeitschriften und Romanen mit der Konstruktion und Zirkulation von Bildern deutscher Frauen im Ausland. PETER MONTEATH (Adelaide) befasste sich mit dem weit verbreiteten Erklärungsansatz, nach dem Australien für deutsche Einwanderer vor allem ein Zufluchtsort vor religiöser Verfolgung gewesen sei. Zwar habe Australien anfangs für viele tatsächlich einen Zufluchtsort dargestellt, allerdings habe die Religion nur eine sekundäre Rolle gespielt. Ein Großteil der Migrant/innen sei zum Anglikanismus konvertiert, so dass andere Faktoren wie beispielsweise ökonomische zur Erklärung herangezogen werden müssten. PHILIPP NIELSEN (Berlin) untersuchte die Verbindung jüdischer landwirtschaftlicher Siedlungen in Deutschland und Lateinamerika in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei richtete er sein Augenmerk insbesondere auf deutsch-jüdische Emigrant/innen, die sich vor ihrer Auswanderung für die „Rückkehr“ von deutschen Juden zur „deutschen Scholle“ eingesetzt hatten. Ihre Verbindung zu Deutschland, emotional wie materiell, in der neuen lateinamerikanischen Umgebung dienten hier als Ansatzpunkt, um über die geografischen wir chronologischen Grenzen deutsch-jüdischer Geschichte nachzudenken.
In Panel 4 wurden „Continuities and Ruptures in the Age of World War“ diskutiert. STEFAN RINKE (Berlin) gab Einblick in den „Burgfrieden“, den deutsche Gemeinden in Südamerika während des Ersten Weltkriegs schlossen. Die heterogenen Gemeinden durchliefen einen Prozess der Assimilierung, der durch den Krieg unterbrochen wurde. Angesichts des alliierten Wirtschaftskriegs, der auch sie traf, und der antideutschen Stimmung rückten sie zusammen und organisierten teilweise erfolgreich, teilweise weniger erfolgreich, neue Formen der Solidarität und Lobbyarbeit. Deutsche in den ostafrikanischen Kolonialgebieten befanden sich zwar in einer ganz anderen Lage, wie DANIEL STEINBACH (Dublin/Exeter) darlegte, wiesen aber durchaus Ähnlichkeiten mit den Migrant/innen in Südamerika auf. Wie die Deutschen in Südamerika pflegten sie enge Kooperationen mit Briten, die durch den Kriegsbeginn unterbrochen wurden. In Ostafrika herrschte nicht nur ein Gefühl der Loyalität gegenüber Deutschland sondern eine gesamteuropäische Identifikation in Abgrenzung zur indigenen Bevölkerung. Als die Deutschen begannen, die in ihren Kolonien ansässigen „Feinde“ in Lagern zu konzentrieren, hatten sie erhebliche Probleme, „Deutsche“ und „Feinde“ zu definieren.
Panel 5 „Shifting Structures and Alternative Imaginings“ brachte zwei Beiträge zusammen, die den Wandel von Deutschtumskonzepten behandelten. CARL BETHKE (Tübingen) legte dar, wie es unter den Donauschwaben in der Vojvodina nach dem Ersten Weltkrieg zu einem Wiedererstarken des Ethnischen kam. Serbien förderte diesen Rückbezug, um das von Ungarn übernommene Gebiet zu entungarisieren. JÜRGEN BUCHENAU (Charlotte) zeigte, wie sich deutsche Händler in Mexiko in den 1930er-Jahren zunehmend akkulturierten, nachdem es durch die Mexikanische Revolution zu einem Konflikt zwischen mexikanischen und deutschen Nationalismen gekommen war.
Panel 6 „Germanness Across Borders“ legte den Schwerpunkt auf Initiativen und Institutionen zum Erhalt des „Deutschtums“. NICHOLAS SVEHOLM (Bloomington) untersuchte in seinem Vortrag die unterschiedlichen (Miss-)Verständnisse und politischen Funktionen der Kategorien „Reichs-“, „Volks-“ und „Auslandsdeutsche“ zwischen 1917 und 1925. Als Beispiel dienten staatlich organisierte Erholungsreisen, bei denen deutsche Jugendliche in deutsche Siedlungsgebiete in Rumänien reisten – zunächst zur Linderung der Kriegsnot, später zur Stärkung des Deutschtums. Das Scheitern des Programms sieht Sveholm in dem Widerspruch zwischen unterschiedlichen Deutschtumsvorstellungen und Deutschlandbildern begründet, etwa in der Wahrnehmung, dass „arme Rumänen“ die Not vermeintlich „reicher Deutscher“ lindern sollten. H. GLENN PENNY (Iowa City/Berlin) betrachtete in seinem Vortrag deutsche Schulen als Knotenpunkte in Migrationsnetzwerken, Wissenstransfers und Nationsbildungsprozessen. Der Aufbau und Erhalt dieser Schulen war abhängig von lokalen, nationalen und transnationalen Dynamiken. Ihr Erfolg oder Misserfolg wiederum prägte die Lebenswege und Erfahrungen von Deutschen im In- und Ausland.
Die Abschlussdiskussion konzentrierte sich auf zwei große Fragekomplexe. 1) Welche Rolle spielen die unterschiedlichen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und geografischen Kontexte in den Geschichten der Auslandsdeutschen? Kann der Begriff „Auslandsdeutsche“ weiterhin in der Forschung verwendet werden, ohne dass die Bedeutung lokaler Spezifika außer Acht gerät? Oder geht durch den Begriff mehr verloren als gewonnen wird? 2) Welche Methoden leiten die Historiografie zum Auslandsdeutschtum? Wo suchen und wo finden wir das Auslandsdeutschtum im Archiv? Woran erkennen wir „es“, wenn wir „es“ gefunden haben?
Insgesamt stellte die Tagung heraus, dass die Untersuchung des Auslandsdeutschtums sowie seiner kontextabhängigen Konstruktionen und Adaptionen die deutsche Geschichte bereichern kann. Gerade die verschiedenen regionalen Expertisen zeigen die komplexen Beziehungen zwischen Akteuren und Diskursen jenseits nationalstaatlicher Maßstabseinheiten auf. So können sie zur Etablierung neuer Raumkategorien in der Geschichte des „Deutschtums“ – etwa der des Netzwerks – und zur Deessenzialisierung von teilweise bis heute wirkmächtigen Identitätszuschreibungen beitragen. In Zukunft könnten von einer stärkeren Verknüpfung unterschiedlicher Regionalgeschichten starke Impulse hin zu einer dezentrierten Perspektive auf die deutsche Geschichte ausgehen.
Konferenzübersicht:
Introductory Remarks
H. Glenn Penny (University of Iowa/Freie Universität Berlin); Stefan Rinke (Freie Universität Berlin)
Opening Lecture
David Blackbourn (Vanderbilt University): Germany in the World, 1880-1930
Panel 1: Some Politics of Being German
Chair: Sebastian Conrad (Freie Universität Berlin)
Ursula Lehmkuhl (Universität Trier): Narrative Tropes as a Transatlantic Bonding Instrument: Political Liberalism and the “Revolutionsnarrativ” in the Letters of the German Bohn Family, 1852 to 2005 (ausgefallen)
Ruth Wittlinger (Durham University): Germans in the Post-Soviet Space: Current Challenges and Theoretical Perspectives
Philippa Söldenwagner (Technische Universität Braunschweig): Whose Colony is it Anyway? The Ambivalent Relationship between Colonial Authorities and German Settlers in German East Africa before World War I
Panel 2: Ethnic Discourses: Some Other Politics of being German
Chair: Max Paul Friedman (American University, Washington D. C.)
Malte Fuhrmann (Orient-Institut Istanbul): “To Raise a German Progeny in the Orient”: Auslandsdeutsche in Ottoman Polyethnic Cities
Hoi-eun Kim (Texas A&M University): Restless Souls: German Expatriates and the Construction of Germanness in Modern Japan
Frederik Schulze (Westfälische Wilhelms-Universität Münster): On the Real, Unreal, and Brazilianized Germans: Being “German” in Rio Grande do Sul, Brazil, circa 1900
Panel 3: Places, Spaces, and the Search for Heimat
Chair: Celia Applegate (Vanderbilt University)
Lize Kriel (University of Pretoria): Heimat in the Veld? German South African Imaginings of Women and Home
Peter Monteath (Flinders University): Australian Heimat? The Invention of Germanys in Nineteenth-Century South Australia
Philipp Nielsen (Max Plank Institute for Human Development Berlin): How the Search for the German Heimat Turned into a Way to Escape it: Jewish Agricultural Ventures in Germany and Latin America between 1900 and 1945.
Panel 4: Continuities and Ruptures in the age of World War
Chair: Maiken Umbach (University of Nottingham)
Stefan Rinke (Freie Universität Berlin): Burgfrieden Overseas? German Communities in South America during the First World War
Daniel Steinbach (Trinity College Dublin and University of Exeter): Colonials in Conflict: Intersections of National Identity and European Solidarity in German East Africa during the First World War
Panel 5: Shifting Structures and Alternative Imaginings
Carl Bethke (Universität Tübingen): From “Assimilation” to “Volksdeutsche”: Meaning and Consequences of the Trianon Treaty for the Swabians in Vojvodina (Yugoslavia)
Jürgen Buchenau (University of North Carolina at Charlotte): A Clash between Nationalisms: Germans and the Mexican Revolution, 1910-1945
Panel 6: Germanness Across Borders
Nicholas Sveholm (University of Indiana): Germanness as Sanctuary: Children's Erholungsreisen to Transylvania and the Banat, 1917-1924
H. Glenn Penny (University of Iowa): Nodal Points: German Schools in Latin America, 1880-1932
Roundtable with all Participants
Chairs: H. Glenn Penny and Stefan Rinke
Anmerkung:
[1] Der Vortrag von URSULA LEHMKUHL (Trier) musste leider ausfallen.