Colonia Dignidad. Ein chilenisch-deutsches Oral History-Archiv (CDOH)
Die Colonia Dignidad („Kolonie Würde“) war eine Sektensiedlung von Auslandsdeutschen im südlichen Chile, in der zwischen 1961 und 2005 schwere Verbrechen verübt wurden. Die Sektenmitglieder und ihre Kinder wurden isoliert, ausgebeutet und sexuell missbraucht. Während der Diktatur (1973-1990) unter Augusto Pinochet wurden hier Oppositionelle gefoltert und ermordet. Die strafrechtliche, entschädigungspolitische, erinnerungskulturelle und gesellschaftliche Aufarbeitung dieser mit Wissen der deutschen Botschaft begangenen Verbrechen ist sowohl in Chile als auch in Deutschland bis heute unzureichend.
Die transnationale Geschichte der Colonia Dignidad verbindet die Bundesrepublik Deutschland und Chile seit ihrer Gründung 1961. Sektenchef Paul Schäfer und die Bewohner/innen waren deutsche Staatsbürger/innen; die Führungsriege unterhielt enge Kontakte zu einem Netzwerk von Unterstützer/innen in beiden Ländern. Nach dem Putsch von 1973 wurde die Colonia Dignidad als „Staat im Staate“ zu einem wichtigen Teil des Repressionsapparats; hier wurden zahlreiche Oppositionelle gefoltert und ermordet. Aber auch nach dem Ende der Diktatur 1990 und der Verhaftung Schäfers 2005 prägt die nicht aufgearbeitete Geschichte der Colonia Dignidad die deutsch-chilenischen Beziehungen. Vor allem aber belasten die Erfahrungen von Gewalt und Missbrauch die Lebenswege und die Erinnerungen der Betroffenen und ihrer Angehörigen.
Das Projekt „Colonia Dignidad – Ein chilenisch-deutsches Oral History-Archiv“ plant die Aufnahme, Bewahrung und wissenschaftliche Aufbereitung einer multiperspektivischen Auswahl von 50 lebensgeschichtlichen Video-Interviews mit unterschiedlichen Zeitzeug/innen zur Geschichte der Colonia Dignidad. Dazu gehören ehemalige und aktuelle Bewohner/innen, zwangsadoptierte und sexuell missbrauchte chilenische Kinder, chilenische Oppositionelle als Opfer von Inhaftierung, Folter und Gewalt bzw. deren Angehörige sowie Nachbar/innen, Beteiligte und Personen, die sich für die Aufarbeitung der Geschichte eingesetzt haben. Die Interviews sollen auf deutsch oder spanisch geführt, dann transkribiert, übersetzt, wissenschaftlich erschlossen und langfristig bewahrt werden. In einem zweisprachigen Online-Portal werden sie in einem geschützten Rahmen für Forschung, Bildung und Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Die Colonia Dignidad ist ein zentrales und kontroverses Kapitel der deutsch-chilenischen Geschichte, das aber lange Zeit weder offen diskutiert noch wissenschaftlich erforscht wurde. Der international beachtete Fall wirft vielfältige gesellschaftlich relevante Fragen auf, die für die Diktatur- und Widerstandsforschung, die Fundamentalismus- und Sektenforschung, die Geschichte der zwischenstaatlichen Beziehungen und der Diplomatie bis hin zur Traumaforschung und zum Vergleich von Erinnerungskulturen von Bedeutung sind.
Das auf drei Jahre angelegte Gesamtprojekt hat im Januar 2019 begonnen und wird zunächst für ein Jahr vom Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland gefördert. Unter der Leitung von Stefan Rinke wird es umgesetzt von der Abteilung Geschichte des Lateinamerika-Instituts und dem Center für Digitale Systeme der Freien Universität Berlin.
Projektwebsite: https://www.cdoh.net
Projektleitung LAI: Prof. Stefan Rinke (Projektleitung LAI), Dr. Cord Pagenstecher (Projektleitung CeDiS), Dorothee Wein (WiMi CeDiS), Philipp Kandler (WiMi LAI), Elena López Pachón (Projektassistenz)