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"Vier magische Monate" - Die Studentenproteste in Mexiko

 

Das mexikanische '68 war ein kurzer, heftiger Sommer der Rebellion. Die ersten Auseinandersetzungen explodierten Ende Juli, als zwei Demonstrationszüge von der Polizei brutal auseinandergetrieben wurden. Es kam zu Straßenkämpfen, die Studierenden protestierten gegen die Polizeigewalt. Wenige Tage später wurden diverse Hochschulen im Stadtzentrum vom Militär besetzt, an die tausend Studierende festgenommen, einige hundert verletzt. Schon am 1. August gab es den ersten großen Protestmarsch gegen das Vorgehen der Armee, der sogar vom Universitätsrektor Javier Barros Sierra angeführt wurde – eine Besonderheit der mexikanischen Studentenbewegung.

 

Die Studierenden traten in den Streik und wählten einen nationalen Streikrat (Consejo Nacional de Huelga, CNH) – neu in der autoritären politischen Kultur war vor allem die Basisdemokratie auf den Vollversammlungen. Anfang August befanden sich bereits siebzig Universitäten und Hochschulen im Ausstand. Die domestizierte Presse sprach damals von „Moskaus Marionetten“ und denunzierte die Protestierenden als ImitatorInnen der Aufstände von Prag oder Paris, wie die ehemalige Aktvistin Elisa Ramírez erinnert. An vielen Instituten entstanden studentische Brigaden, die der Bevölkerung Sinn und Ziel des Streikes näher bringen sollten. Studierende, da-runter viele Frauen, verteilten Flugblätter, beklebten Wände und Autobusse mit Wandzeitungen, machten Straßentheater und Mund-zu-Mund-Propaganda. „Wir haben uns unzählige Wege überlegt, wie wir unsere Sache dem Volk näherbringen können“, erzählt Ana Ignacia Rodríguez alias La Nacha. „Die Brigaden waren die einzige Form, wie die Bewegung wachsen konnte.“ (28)

 

Angesichts der blindwütigen Repression schwollen die studentischen Proteste tatsächlich binnen weniger Wochen zu einer Massenbewegung an. Der Krimiautor Paco Ignacio Taibo II staunt noch heute über das, was er die „vier magischen Monate“ nennt: „Wir waren eine Studentenbewegung, die keine einzige studentische Forderung erhob“ (29). Es ging aber auch so gut wie nie um gewaltsamen Umsturz. In einem Sechspunkte-Katalog (pliego petitorio) verlangte man vor allem die Freilassung der „politischen Gefangenen“ und einen „öffentlichen Dialog“ mit dem Staatschef.

 

Zwar waren auch die mexikanischen Studierenden von der blühenden Gegenkultur der Sechzigerjahre, La Onda genannt, geprägt. In erster Linie aber wandten sie sich gegen den politischen Autoritarismus und die staatliche Repression; ihre Hauptanliegen waren Meinungs- und Demonstrationsfreiheit. Der Präsident und die ihm ergebenen Medien sahen jedoch ausländische Agitatoren und kommunistische Verschwörer am Werk. Jede Unruhe auf den Straßen galt im Angesicht der bevorstehenden Olympiade als Störfaktor; die Demonstrierenden wurden mit einer bis dahin nie gesehenen Härte attackiert. Höhepunkt der Mobilisierung war Mitte September ein gigantischer Schweigemarsch, bei dem fast eine halbe Million Menschen mit Fackeln in das Stadtzentrum zog. Wenige Tage später ließ der Präsident den Campus der besetzten Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) von der Armee räumen, eine Woche später drang das Militär auf das Gelände der anderen großen Hochschule, des Instituto Politécnico Nacional (IPN), ein. CNH-Delegierte begannen mit UnterhändlerInnen der Regierung über den Forderungskatalog zu verhandeln. Doch der Präsident setzte unbeirrt auf Eskalation – die Bewegung endete im Massaker. „Auf alles hatten wir uns vorbereitet, auf die Schläge und auf das Gefängnis“, erinnert Elisa Ramírez. „Nur auf den Tod waren wir nicht vorbereitet.“ (30) Am 4. Dezember beschloss der CNH die Aufhebung des Streiks.

 

Anne Huffschmid