Der Cordobazo
Die gewaltsamen Zusammenstöße in der Provinzhauptstadt Córdoba im Mai 1969 sind als der Höhepunkt des „argentinischen '68“ in die Annalen eingegangen. Fast vierzehn Jahre nach dem Putsch gegen Juan Domingo Perón und im dritten Jahr der stabilisierten Diktatur unter General Juan Carlos Onganía wurde das Klima sowohl bei ArbeiterInnen wie auch bei Studierenden im Frühjahr 1969 explosiv. Die Hochschulen waren politisiert, die nationale Universität wurde vorübergehend sogar geschlossen. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Bevölkerung und Staatsgewalt wurden nicht nur in Buenos Aires, sondern auch in den Provinzen immer häufiger. Hinzu kamen Lohnkürzungen und die gerade erst beschlossene Abschaffung des sábado ingles, des arbeitsfreien Samstags. Córdoba gehörte zu den wirtschaftlich prosperierenden Regionen des Landes, eine Vorzeigeregion der Regierung Onganías – trotzdem oder vielleicht gerade deshalb spitzten sich hier die Konflikte zu. Die lokalen Gewerkschaften Córdobas galten aufgrund ihrer organisatorischen und finanziellen Autonomie als besonders „antibürokratisch“ und militant.
Im Stadtzentrum war es schon seit Mitte Mai 1969 zu Tumulten gekommen. Ein Grund dafür war die Ermordung von vier StudentInnen und ArbeiterInnen in den entlegenen Provinzen Corrientes, Rosario und Tucumán. Am 26. desselben Monats organisierten verschiedene Arbeiterführer, darunterAgustín Tosco alias El Gringo von der Confederación General del Trabajo de los Argentinos (CGTA), verschiedene Versammlungen in der Stadt. Dabei gelang es ihnen, Kontakt zwischen den lokalen Gewerkschaften, StudentInnengruppen und der katholischen Bewegung der „Priester der Dritten Welt“ herzustellen – eine bis dahin ungewöhnlich breite Allianz.
Die Gewerkschaften rufen für den Morgen des 29. Mai einen aktiven Streik, den paro activo,aus. Gegen Morgen ist die Situation in der altehrwürdigen Universitätsstadt angespannt. Die Polizei positioniert sich im Stadtzentrum, die Straßen werden abgesperrt. Gegen 11 Uhr verlassen viele der Beschäftigten ihre Arbeitsplätze und setzen sich Richtung Stadtzentrum in Bewegung. Studierende halten Versammlungen auf der Straße ab und schließen sich spontan dem Zug an. „Das war eine kollektive Entscheidung“, erinnert sich ein Arbeiter einer Autofabrik in einem Interview mit der Zeitschrift Umbrales dreißig Jahre nach den Vorfällen. „Ich weiß gar nicht mehr, wie es dazu gekommen ist. Niemand hat den Befehl oder irgend so etwas gegeben, aber wir sind alle gegen die Polizei vorgerückt. Ich hatte verfaulte Mandarinen in der Hand, ich hatte gar nichts, womit ich mich hätte verteidigen können. Aber wir sind einfach immer weiter gegangen...“ (48). Die Polizei will den Zug ins Stadtzentrum aufhalten und setzt Tränengas ein, kurz darauf wird scharf geschossen. Über Seitenstraßen gelangen die ArbeiterInnen schließlich doch ins Zentrum. Gegen das Tränengas werden Feuer auf den Straßen entzündet, die Luft ist voller Rauch. Die Polizei geht in actos relámpagos, sogenannten Blitzeinsätzen, gegen die DemonstrantInnen vor, es fallen immer mehr Schüsse. Eine Gruppe von Automechanikern leistet Widerstand mit dem, was sie zur Hand haben, vor allem Steine und Eisenteile. Molotowcocktails werden gebaut, Autos gehen in Flammen auf, Fensterscheiben klirren. Busse, Geschäfte und Büros werden angezündet. In den Morgenstunden des 30. Mai ist Córdoba kurzzeitig eine eroberte Stadt, die Polizeikräfte sind besiegt. Die Regierung beschließt, die Stadt zurückzuerobern und die Armee gegen die DemonstratInnen einzusetzen. Die offiziellen Angaben über die Opfer schwanken: Die Rede ist von 14 bis 34 Toten, 200 bis 400 Verletzten und etwa 2.000 Verhafteten. 34 Demonstranten, darunter auch El Gringo Tosco, werden von einem Kriegsgericht zu Strafen von drei Monaten bis zu acht Jahren verurteilt.
Der Cordobazo hat sich als kurzer, aber symbolisch bedeutender Moment der erfolgreichen Gegenwehr in die argentinische Geschichte eingeschrieben: Der Provinzgouverneur musste zurücktreten, kurze Zeit später räumte auch die Regierung Onganía das Feld. „Das Ziel war nicht, Córdoba in Flammen aufgehen zu lassen“, erinnert sich der Gewerkschafter Felipe Alberti. „Es ging um legitime Selbstverteidigung für die Rechte der Arbeiter und die Freiheit der gesamten Gesellschaft.“ (49)
Das politische Klima hatte sich nach dem Cordobazo in den Städten verändert. Die Diktatoren konnten das Image ökonomischer und politischer Stabilität nicht mehr aufrechterhalten. Die lokalen ArbeiterInnenbewegungen versuchten sich auch auf nationaler Ebene zu organisieren, Studierende forderten Autonomie für die Universitäten und schalteten sich zunehmend in die politischen Debatten ein. Spannend bleibt die Frage nach Ursache und Wirkung der Gewaltspirale. Beim Cordobazo kam es zu der bis dahin heftigsten Entladung von Gewalt in Argentinien, er gilt daher als wichtiger Faktor für die zunehmende Gewalt auf Seiten der Protestakteure und der Staatsmacht. Die sozialen Widerstandsbewegungen wurden durch den Cordobazo in ihrer Notwendigkeit, aber auch in ihren Einflussmöglichkeiten weiter bestärkt. Doch statt die Jugend verstärkt in den politischen Prozess einzubinden, so argumentiert die Historikerin Mónica Gordillo, wurde sie immer mehr aus der öffentlichen Sphäre heraus und zu militanten Organisations- und Kampfformen gedrängt. Hier liege ein wichtiger Grund für die Entstehung bewaffneter Gruppen wie der Montoneros.
Luis, ein ehemaliger Studentenführer, beschreibt den Cordobazo als Mythos:
Der Cordobazo wurde zu einem romantischen Bild, das bei allen weiteren Vorfällen präsent war, und begründete eine sehr mächtige Mystik. Da ist diese romantische Idee des Klassenbewusstseins. Im individuellen Bewusstsein von allen, die wir damals dabei waren, setzte sich etwas fest: das ist genau das, was die Menschen wollen. Und der Cordobazo beschleunigt das alles, man hatte keine Zeit zu verlieren und dabei stürzt man sich voll hinein in Aktionen, bei denen man alles riskiert. Nicht nur für jeden persönlich, sondern auch als Organisation. Es gibt diese Dringlichkeit, diese Überstürzung... (50)
War der Cordobazo nun Teil eines globalen '68? Seit Beginn der 60er Jahre war die Kubanische Revolution in Argentinien sehr präsent. Die argentinische ArbeiterInnenbewegung identifizierte sich mit den revolutionären Idealen und forderte die Abschaffung des Kapitalismus und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft. Vielleicht handelt es sich hier eher um eine globale Bewegung, die sich von der westlichen Welt abgrenzt? So bezieht sich beispielsweise Enrique Juárez, ein Vertreter des Kinokollektivs Realizadores de Mayo, ausdrücklich nicht auf den Pariser Mai, sondern auf die Unabhängigkeitskämpfe Algeriens oder die erfolgreiche Kubanische Revolution. Sie entwerfen die Idee eines Tercermundismo, einer Befreiung der „Dritten Welt“ vom Neokolonialismus und von staatlicher Gewalt. In seinem Dokumentarfilm „Ya es tiempo de violencia“ (1969) über den Cordobazo wird vor allem auf lateinamerikanische Ereignisse, etwa die Entwicklungen in Brasilien, Kolumbien, Venezuela und in der Dominikanischen Republik, verwiesen.
Zwar verglich Juan Domingo Perón, der sich zu dieser Zeit im spanischen Exil befand, in seiner Grußbotschaft an die argentinischen Studierenden den Cordobazo mit dem Pariser Mai, wie sich der ehemalige Student Carlos erinnert. Doch im Grunde sei der Zusammenstoß ein Ausdruck des Widerstandes gegen die zunehmende Repression im eigenen Land gewesen:
Der 29. Mai 1969 war der Höhepunkt einer ganzen Serie von Protesten, speziell der Gewerkschaften und Studenten. Aber er ist auch allgemein als große demokratische Forderung der Bevölkerung zu verstehen, gegen die Diktatur einer militärischen Elite und für die politischen Rechte als Bürger. (51)
Inga Kleinecke