Editorial: Revolution, Repression und Revolte - '68 in Lateinamerika
Lateinamerika lieferte im weltumspannenden Diskurskarussell um vierzig Jahre '68 zwar viele der globalisierten Mythen und Ikonen – ob Che Guevara, Fidel Castro oder Stadtguerilla – als Schauplatz für gesellschaftliche Aufbruchbewegungen aber geriet der Kontinent hierzulande so gut wie nie in den Blick. Oder höchstens als Kulisse, wie in dem spektakulären Bild von den Olympischen Spielen 1968, als zwei schwarze Athleten auf dem Siegerpodium ihre behandschuhte Faust zum Black-Power-Gruß reckten. Dass die Szene in Mexiko-Stadt spielte, wo wenige Wochen zuvor Soldaten eine friedliche Protestkundgebung niedergeschossen hatten und eine bis heute unbekannte Zahl junger Menschen massakriert hatten – die neben Prag weltweit wohl blutigste Niederschlagung einer 68er-Bewegung –, blieb ausgeblendet.
Eine Stunde Null markiert das Jahr 1968 nirgendwo auf der Welt, in Lateinamerika womöglich noch weniger als anderswo: Schon seit Beginn der 60er Jahre, mit der noch jungen Kubanischen Revolution von 1959, waren die Dinge und Verhältnisse in Bewegung geraten. Landflucht trieb das Wachstum der Metropolen an, junge Menschen eroberten sich – befeuert von kulturellen Aufbrüchen in den USA und Europa – eigene neue Räume. Die gesellschaftliche Liberalisierung und ökonomische Entwicklung rieb sich am starren, repressiven Autoritarismus der meisten Regime. Das Beispiel Kubas schien eine Revolution in den Bereich des Machbaren zu rücken, die politischen Fronten radikalisierten sich, die ersten ländlichen Guerillagruppen entstanden, aber auch Militärregime wurden installiert, in Brasilien schon 1964. Die katholische Kirche wurde im Zeichen der Befreiungstheologie sozialrevolutionär „unterwandert“. Ende der Sechzigerjahre kam es dann zu einer bemerkenswerten Verdichtung. Studentische Bewegungen mobilisierten in vielen Ländern – zeitgleich zu den Protesten in Prag, Paris, Berlin, Berkeley und Tokio – gegen ihre autoritären Regierungen, verbündeten sich dabei mit anderen Kräften und brachten die kulturelle Imagination zum Blühen. Wenn '68 in Lateinamerika auch mehr eine Chiffre denn eine fixe Jahreszahl darstellt – in der Forschung wird zuweilen vorgeschlagen, den zeitlichen Rahmen auf die Zeit zwischen der Kuba-Revolution (1959) und dem Sturz der Allende-Regierung in Chile (1973) auszuweiten –, so markiert diese doch zweifellos allerorten eine Zeit der Beschleunigung und Polarisierung. Año constelación nennt es der Schriftsteller Carlos Fuentes, ein Schaltjahr also, und vergleicht es mit einem früheren Schlüsseljahr, 1810, das auf dem gesamten Kontinent den Beginn der Unabhängigkeitskämpfe markierte – in ebenfalls, so Fuentes, „erstaunlicher Gleichzeitigkeit“. (1)
Studentische Proteste und Bewegungen waren nichts Neues oder Ungewöhnliches in Lateinamerika. Schon 1918 hatte eine gewaltige Mobilisierung im argentinischen Córdoba, der ältesten Universitätsstadt des Kontinents, eine tiefgreifende Reform angestoßen. Öffentliche Universitäten wurden vor allem in den Sechzigerjahren zu kritischen Freiräumen und Keimzellen des Protestes der urbanen Mittelschichten, nicht zuletzt aufgrund ihres Autonomiestatus in autoritären Regimen. Doch auch kirchliche Hochschulen waren, politisiert durch die katholische „Befreiungskirche“, wichtige Schaltstellen gesellschaftskritischer Opposition. Zu Massenbewegungen, die im öffentlichen Raum der Stadt und der Medien sichtbar wurden, wuchsen die studentischen Proteste jedoch erst durch oftmals fragile und temporäre Bündnisse mit anderen Gruppen wie Arbeitern oder linken Parteien an. Neben dem Vietnamkrieg und den antikolonialen Befreiungskämpfen lieferten im Jahr 1968 vor allem zwei geographisch weit voneinander entfernte Pole den utopischen Treibstoff für die Mobilisierung: die Revolutionshauptstadt Havanna und das aufständische Paris.
Als Ernesto „Che“ Guevara am 9. Oktober 1967 in einem bolivianischen Bergdorf von Soldaten hingerichtet wurde, schien mit ihm die Hoffnung begraben zu werden: dass die Revolution mit genügend Idealismus, Esprit und Elan von einem Land in ein anderes übertragbar sei. Doch trotz seiner Niederlage und offensichtlichen Isolation in Bolivien wurde der Che nach seinem Tod erst recht zur Ikone einer bis dahin nie gesehenen Politisierung auf dem Kontinent – für zivile, studentische und gewerkschaftliche Mobilisierungen, aber auch für die Organisation des militanten, klandestinen Widerstandes. Der bewaffnete Kampf verlagerte sich von ländlichen Gebieten in die Städte – die prominentesten Stadtguerillas waren die Tupamaros in Uruguay und die argentinischen Montoneros. Anders als die in konservativen Kreisen bis heute verbreitete „Theorie der zwei Dämonen“ behauptet – dass sich mit Guerilla und Armee zwei Gewaltakteure gegenseitig hochgeschaukelt hätten – stand am Anfang der sogenannten „Gewaltspirale“ regelmäßig Polizeigewalt und Staatsterror. Seit Ende der Sechzigerjahre verschärften oder etablierten sich Militärdiktaturen, die sich in den 70er Jahren – vor allem durch die Militärputsche in Chile (1973) und Argentinien (1976) – dann weiter fortsetzten. Diese rechten Regime gelten als typisch lateinamerikanische Folge von '68 – die bleierne Zeit, die auf den Aufbruch folgte. Weniger bekannt ist der sogenannte „Militärreformismus“: nationalistisch und sozialpolitisch inspirierte Militärregime, die sich – etwa in Peru (1968-1975) oder Bolivien (1969-1971) – die Rückeroberung der nationalen Souveränität gegenüber imperialen Mächten auf die Fahnen schrieben. Doch diesen sogenannten „linken Juntas“ war keine lange Dauer beschieden.
Doch '68 in Lateinamerika meint hier ausdrücklich nicht nur Revolution, also die Kämpfe um die politische oder militärische Machtübernahme, oder Repression, sondern auch die vielen kleinen und größeren Revolten im Alltag und in der Kulturproduktion, im Miteinander der Geschlechter, das Aufbegehren gegen konservative Moral, das Aufbrechen von Normen und Tabus, die Politisierung der Künste.
Der kulturelle Zeitgeist der Sixties in Mode und Musik, Werbung und Ästhetik war auch in Lateinamerika zunehmend ein Modus des Aufbegehrens, die starren Bildkontrollen lockerten sich und die Contracultura, die Gegenkultur, begann zu blühen. Gespeist wurde sie unter anderem aus englischsprachiger Jugendkultur, Beat, Rock und Rock‘n‘Roll, die sich von Norden nach und nach in den Süden des Kontinents ausbreiteten. Rock wurde zum Vehikel für ein rebellisches Lebensgefühl, teilweise – wie in Mexiko unter dem Label La Onda – von heimischen Interpreten „lokal adaptiert“. (2) Diese zunehmend globalisierte Jugendkultur traf in Lateinamerika auf la canción protesta, das aus den Folkrepertoires gespeiste politische Lied. Es waren also zwei kulturelle Welten, die Ende der Sechzigerjahre in der lateinamerikanischen Protestkultur verschmolzen. Seit 1967 strömten zudem die vom Beat inspirierten Hippies gen Süden, vor allem ins benachbarte Mexiko. Man suchte, fand und schuf kleine Paradiese in indigenen Regionen oder am Strand. Auch wenn die Codes einer kulturellen Lockerung sich in Nord und Süd ähnelten, so war der Hintergrund selbstverständlich nicht derselbe: Eine Überfluss- und Konsumgesellschaft, gegen die sich die hippiesken Experimente in der hochindustrialisierten Welt zur Wehr setzten, war in Lateinamerika bis auf winzige Enklaven längst nicht installiert. Eine grundlegende Veränderung der Alltagskultur brachte jedoch auch hier die Antibaby-Pille: Schwangerschaft war kein Schicksal mehr, junge Frauen eroberten sich kleinere Freiräume, Haare und Röcke wurden kürzer, Rauchen und Sprechen in der Öffentlichkeit waren keine Tabus mehr. Zwar ging die 68er-Bewegung anders als in Europa und den USA hier noch nicht mit der Revolte der Frauen einher, von der Völker- zur Frauenbefreiung sollten noch ein paar Jahre vergehen. Doch für den neuen lateinamerikanischen Feminismus seit Anfang der 70er Jahre lieferte '68 zweifellos wichtige Anstöße. Schließlich wurde auch die Kulturproduktion in den Strudel der rasanten Politisierung aller Lebensverhältnisse gezogen. Auf der Tagesordnung stand die Frage nach den Möglichkeiten der Revolution mit den Mitteln der Kunst, die radikale Infragestellung des Bestehenden und der gängigen Arbeitsteilungen – eben auch die zwischen politischer und künstlerischer Aktion.
„Erinnerung ist nicht dasselbe wie Wahrheit“, lautet das Credo der argentinischen Soziologin Elizabeth Jelin, eine der bedeutendsten Erinnerungsforscherinnen des Kontinents. (3) Und die Erinnerung politischer Gewalt ist auch nicht automatisch gleichbedeutend mit Recht, also der juristischen Ächtung von Menschenrechtsverbrechen, oder mit Geschichtsschreibung. Erinnern bedeutet vielmehr deuten, also Sinn stiften und Zusammenhänge konstruieren – und zwar stets von den Interessenlagen der Gegenwart aus, als vielstimmiger und konfliktiver Prozess. In Bezug auf '68 ist bis heute vielerorts offen und umstritten, ob das politische Kapital aus den studentischen Kämpfen als Sieg oder Scheitern zu deuten sei. Für Mexiko beantwortete Carlos Fuentes diese Frage einmal mit der Formel der „Pyrrhus-Niederlage“: Kurzfristig habe das autoritäre Regime in einer für den Kontinent beispielhaften Geschmeidigkeit die Proteste niedergeschlagen und so den „falschen Frieden“ der 70er Jahre ermöglicht. Langfristig aber haben die 68er die späteren Demokratisierungsschübe in Mexiko und anderswo eingeleitet und unausweichlich gemacht. Bislang waren Erinnerungsprojekte und -politiken in Lateinamerika überwiegend, vor allem in den Ländern des Cono Sur, mit dem Staatsterror verknüpft. In Mexiko hingegen gibt es eine lange Tradition, den Gedenktag des Massakers von Tlatelolco, den 2. Oktober, zu einem Protestmarsch für politische Forderungen der Gegenwart umzufunktionieren, wie Sherin Abu-Chouka in ihrem Beitrag zeigt – ein eindrückliches Beispiel für die Aktualität und Aktualisierung des „Gedenkens“ an die studentische Protestmobilisierung. So ist es womöglich kein Zufall, dass hier das erste – und bislang wohl einzige – 68er-Museum der Welt entstanden ist.
So evident das Repertoire gemeinsamer Bezugspunkte der Jugend- und Studentenproteste dies- und jenseits des Atlantiks scheint, so kompliziert gestaltet sich die Frage nach der Globalität der lateinamerikanischen 68er, also der Existenz eines „transnational imaginierten Revolutionszusammenhangs“, dem Jan Kunze in seinem Beitrag nachgeht. Nicht minder komplex stellt sich zudem die Frage nach ihrer Vergleichbarkeit mit europäischen und US-amerikanischen Aufbruchbewegungen. Lange vorherrschend und beliebt war die letztlich eurozentristische Auffassung, die lateinamerikanischen Protestierenden seien lediglich Nachahmer der europäischen und US-amerikanischen Vorbilder und würden, so argumentierte beispielsweise die mexikanische Regierung, wahlweise von physisch wie moralisch verwahrlosten Hippies oder von kommunistischen Weltverschwörern aufgehetzt. Heute scheint, wenn überhaupt von den lateinamerikanischen 68ern die Rede ist, eher die Auffassung vorzuherrschen, die dortigen Bewegungen seien unvergleichbar „politischer“ gewesen, weil in ihnen der Glaube an die Machbarkeit von Revolution verbreiteter und sie zudem mit härteren Regimen konfrontiert gewesen seien. Doch auch eine solche Lesart, die auf fundamentale Unterschiede zwischen dem politisierten „Kleinbürgertum“ Europas und den „revolutionären Kriegen“ Lateinamerikas verweist, wie bei Hugo Vezzetti in einer Replik auf Carlos Fuentes (4), verkennt, was die Bewegungen eben doch vergleichbar – nicht: gleich – macht: dass das „Revolutionäre“, ob in Tat oder Theorie, immer flankiert war von den „Revolten“. Dass also auch in Lateinamerika die Revolutionierung des Alltags in the long run womöglich nachhaltiger war als alle „Volkskriege“ und nationalen oder „sozialistischen“ Revolutionen. (5)
Ein Büchlein des vorliegenden Formats, das aus einer studentischen Projektgruppe am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin entstanden ist, kann nichts anderes als Fragmente versammeln und Schlaglichter werfen – subjektiv, selektiv, ohne Anspruch auf eine flächendeckende politische oder historische Kartographie. Aber durchaus in der Hoffnung, eine Leerstelle etwas ausgeleuchtet zu haben. Den Berliner Studierenden, die mit ihrem Interesse und Engagement den vorliegenden Band möglich gemacht haben, möchte ich dabei vor allem danken. Ihre Neugier auf eine zeitlich wie geographisch eher ferne „Befreiungsbewegung“ scheint mir heutzutage und hierzulande alles andere als selbstverständlich.
Anne Huffschmid