Eine Bewegung ins Museum? Das Memorial del 68 in Mexiko-Stadt
Im mexikanischen Gedächtnisspeicher schnurrt die Chiffre '68 meist auf jenen furchtbaren 2. Oktober zusammen, an dem den Protesten ein jähes, blutiges Ende gesetzt wurde. Mit dem Memorial del 68, das von der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) finanziert und betrieben wird, wurde ein neuer Erinnerungsort in Mexiko-Stadt geschaffen, an dem nicht primär der Terror, sondern vor allem ihm vorausgegangene Auf- und Umbruchbewegungen und ihre Bedeutung für das Heute erinnert werden. Im Oktober 2007 wurde das Memorial im Erdgeschoss und Keller eines direkt an der Plaza de Tlatelolco gelegenen Büroturms – dem ehemaligen Außenministerium – eröffnet, als Kernstück eines neuen Kulturzentrums für das bis dahin kulturelle Brachland im Norden der Stadt (Centro Cultural Universitario Tlatelolco, CCUT).
Der Rundgang bietet eine multimediale Rekonstruktion der Bewegung und ihres Vor- und Nachspiels. Nacherzählt wird dabei in erster Linie die Chronik der Aufstände von Juli bis Oktober 1968, allerdings vor dem Hintergrund – ein Novum im historisch eher selbstbezogenen Mexiko – weltumspannender kultureller und politischer Schwingungen. Zentrales Material dieser vielstimmigen Erzählung liefern die knapp 60 Interviews mit AktivistInnen und ZeitzeugInnen, die der Filmemacher Nicolás Echeverría aufgenommen hat. Diese sprechen von im Raum verteilten Bildschirmen und Leinwänden zu den BesucherInnen und berichten von diesem und jenem Ereignis, von ihrer eigenen Politisierung, vom Staunen und Schrecken – subjektiv, bewusst auch widersprüchlich. „Es ist ein wenig wie der Film Rashomon“, sagt der Kurator Alvaro Vázquez Mantecón. „Jeder hat seine eigene Version der Geschichte.“ Darum könne es nicht um die „Wahrheit der Bewegung“ gehen, nicht um Heroismus, Hohelieder oder Abrechnungen, sondern um eine „Polyphonie“, die gemeinsame, plurale Reflektion einer politischen wie kulturellen, so traumatischen wie befreienden Erfahrung. Zusammen mit einem minimalistischen Ausstellungskonzept aus Fotografien, Graphiken und Zeitdokumenten entsteht aus diesen Erinnerungsfragmenten bei den – oftmals sehr jungen – BesucherInnen ein kaleidoskopartiger
Blick auf das, was '68 einst war und heute noch in den Köpfen ist. Der Leiter des CCUT, Sergio Raúl Arroyo schreibt dazu:
Weder sakralisieren noch banalisieren. Sich nicht der Nostalgie hingeben, aber auch nicht die Erfahrung in diesem Meer aus Zeit und Vergessen verdünnen, in das schon so viele andere eingegangen sind. Das Memorial will den potenziellen Zuschauer mit der besonderen Macht der Erinnerung konfrontieren, die als kreative Erfahrung verstanden wird und – mit der notwendigen Distanz zu der Trägheit vorgefertigter Werturteile – in erster Linie auf das Verstehen der menschlichen Natur abzielt, einschließlich ihrer Widersprüche. Das Gedenken an die Studentenbewegung von '68 muss sich also jenseits eines unkritischen Triumphalismus oder der fatalistisch beschworenen Niederlage verorten. Den kritischen Gehalt von 1968 wird man weder in der offiziellen Geschichte noch im lautesten aller Radikalismen oder in der Friedhofsruhe finden. Darin, wie damals die Angst erschüttert wurde, und in der verstörend direkten und antikonformistischen Sprache liegen die Quellen, die die Phantasie nähren können, allen voran die politische Phantasie. (84)
Ein virtueller Rundgang findet sich unter: http://www.tlatelolco.unam.mx/Recorrido/recorrido.html (zuletzt abgerufen am 29.06.2009).
Anne Huffschmid