1968 in Lateinamerika und Europa: unterschiedliche Rahmenbedingungen
Wer sich als Studierender in der heutigen Zeit mit der 68er-Generation als Ganzer, auch über die StudentInnenbewegung hinaus, beschäftigt, kann sich die Lage, in der sich die 68er damals befanden, kaum vorstellen. Oft bleiben bei der Auseinandersetzung mit diesem Thema mehr Fragen als Antworten: Was war die besondere Situation in den 60er Jahren? Welche Beweggründe hatte die 68er-Generation und deren innere Entwicklung? Was waren ihre Ziele? Der Vergleich zwischen '68 in Lateinamerika und Europa, und hier vor allem Westdeutschland, wirft dieselben Fragen nach dem Warum und Wofür auf – allerdings mit verschiedenen Antworten auf beiden Seiten des Atlantiks. Im Folgenden soll diese Unterschiedlichkeit entlang der fünf Themenblöcke des Buches – Repertoire, Bewegung, Gewalt, Alltagskultur und Kulturproduktion sowie Erinnerung – kurz beleuchtet werden.
Aus Sicht eines Politikstudenten ist die erste augenfällige Diskrepanz natürlich der politische Rahmen, aber auch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Perspektive sowie die unterschiedliche Rezeption des internationalen Kontextes. Verkürzt gesagt, standen den repräsentativen Demokratien in Westeuropa autoritäre Regime und Diktaturen in Lateinamerika sowie in Osteuropa gegenüber. Dabei beschreibt der Begriff „repräsentative Demokratie“ lediglich die Existenz von Institutionen der Volksvertretung wie Exekutive und Legislative, die durch das Volk mittels freier Wahlen legitimiert werden. Ein solcher Demokratiebegriff betrifft ausdrücklich nicht die Gesellschaftsordnung und das Vorhandensein eines Rechtsstaates. Im Jahr 1968 waren in zahlreichen lateinamerikanischen Ländern Militärjuntas an der Macht. Die prominentesten Beispiele waren die Diktatur von Onganía in Argentinien, die Militärherrschaft des deutschstämmigen Stroessner in Paraguay sowie die Diktaturen in Brasilien und Peru. Ein zentraler Aspekt der politischen Situation in Lateinamerika war zudem die ökonomische, politische und militärische Hegemonialmacht der USA.
Diese politischen Rahmenbedingungen hatten eine Spirale aus staatlicher Repression durch Polizei und Militär sowie der Gegengewalt durch Guerillagruppen zur Folge, die sich aus der ArbeiterInnen-, SchülerInnen- und Studierendenschaft rekrutierten. In Lateinamerika waren die Zusammenstöße zwischen protestierenden Jugendlichen und der Staatsmacht, die zahlreiche Todesopfer auf den Straßen forderten, die ersten Schritte in die Gewaltspirale. Bilder vom Massaker von Tlatelolco in Mexiko-Stadt (Oktober 1968) und des Cordobazo in Argentinien (Mai 1969) sind als einschneidende Ereignisse der staatlichen Repression um die Welt gegangen. Weitgehend unbekannt blieben hingegen andere Schauplätze und Ereignisse, wie die immer wieder aufgeflammten Gewaltexzesse in Guatemala, wo bei Demonstrationen bereits seit 1956 häufig mehrere tote StudentInnen zu beklagen waren. In Managua, der Hauptstadt Nicaraguas richtete die Nationalgarde des Diktators Somoza 1967 ein Blutbad unter Regimegegnern an, man spricht von 200 bis 1.000 Todesopfern. Im Gegensatz dazu blieb in Westdeutschland der im Juni 1967 erschossene Benno Ohnesorg unter den Studierenden das einzige Todesopfer von Polizeigewalt. Der zweite „Märtyrer“ wurde dann der Studentenführer Rudi Dutschke, der im April 1968 von einem fanatisierten Mann angeschossen wurde und 11 Jahre später diesen Verletzungen erlag. Bei den Ausschreitungen während des Pariser Mai gab es mehrere Schwerverletzte. In Osteuropa, etwa beim Einmarsch der sowjetischen Panzer in Prag im August 1968, lag die Zahl der Todesopfer, Presseberichten zufolge an die hundert, allerdings wesentlich höher.
Die unterschiedliche Intensität der staatlichen Reaktion radikalisierte die StudentInnen- und ArbeiterInnenbewegungen auf verschiedene Weise. Zwar bildeten sich sowohl in Lateinamerika als auch in Europa linke Guerillagruppen, doch in Lateinamerika hatten die Guerillas einen weit größeren Zulauf an Mitgliedern und SympathisantInnen sowie einen viel stärkeren Rückhalt in der Bevölkerung. Zum Beispiel zählte eine der ersten Stadtguerillas, die der Tupamaros in Uruguay, zu ihren Hochzeiten bis zu tausend Mitglieder, während ihre Nachahmer der Roten Armee Fraktion (RAF) in ihrer ersten Generation nur etwa 50 MitstreiterInnen hatten. Gemeinsam war den bewaffneten Gruppen auf beiden Seiten des Atlantiks allerdings ihr Kampf mit militärischen Mitteln gegen die von ihnen so bezeichnete herrschende „Oligarchie“ und den „faschistischen“ oder „autoritären“ Staatsapparat sowie für eine sozialistische Gesellschaft.
Der Einbezug der Notstandsgesetzgebung in das deutsche Grundgesetz durch die Große Koalition und der Erlass von Notverordnungen in Uruguay im Jahr 1968 waren nach einem formalen Demokratieverständnis an sich weder illegal noch antidemokratisch. Eine Verschiebung zu einer autoritäreren Gesellschaft und eine Einschränkung des Rechtsstaats aber gingen damit in beiden Ländern klar einher. Auf beiden Kontinenten richteten sich die 68er-Bewegungen gegen den Autoritarismus, sowohl innerhalb der Familien wie auch bei der autoritären Organisation und Leitung der Universitäten. So kämpften die Studierenden allerorten vor allem für eine universitäre Mitbestimmung. Diese Tradition des co-gobierno bestand in Lateinamerika, ausgehend von der Universität von Córdoba in Argentinien, schon seit den Zwanzigerjahren, während in Europa die Demokratisierung der Universitäten eine vergleichsweise neue Forderung der 68er-Bewegung war. In Lateinamerika standen die Universitäten auch klar im Zentrum des Konflikts mit der Polizei und dem Militär: Dabei kam es oftmals zur Belagerung von verschanzten StudentInnen und zur Besetzung von Universitätsgebäuden durch staatliche Sicherheitskräfte. Diesen Grad der Eskalation erreichten die Auseinandersetzungen in Westeuropa kaum.
In Deutschland war die fehlende Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und der mangelnden Verfolgung der Täter der wesentliche Grund für das Aufbrechen eines Generationenkonflikts. Die wieder im Wohlstand lebenden Eltern wollten sich nicht mit der unbequemen Geschichte herumschlagen und die Jugend kritisierte die Kontinuität einer autoritären Gesellschaftsordnung. Aus diesem Grund richtete sich die deutsche StudentInnenbewegung viel stärker gegen die gesellschaftlichen Normen und entwickelte alternative Lebensformen wie Kinderläden und Wohngemeinschaften. In Lateinamerika stellten die Menschen kulturelle Normen bei Familientraditionen, Erziehungsmodellen und Geschlechterbeziehungen zunächst weniger infrage. Zwar begann die Frauenbewegung, die in Ländern wie Frankreich oder Westdeutschland schon im Zuge der StudentInnenbewegung aufkam, in Lateinamerika erst in den Siebzigerjahren. Minirock und Pille aber veränderten auch dort die Alltagskultur.
Die unterschiedliche Ausprägung des Rechtsstaats in Westeuropa und Lateinamerika zeigte sich in der staatlichen Behandlung der jugendlichen Protestierenden: Während in Lateinamerika Massenverhaftungen, Folterungen und Morde an der Tagesordnung waren, ist dies für Westeuropa nicht dokumentiert. Besonders die zögerliche Strafverfolgung der damaligen Täter des staatlichen Repressionsapparats, die bis heute größtenteils straffrei geblieben sind, verleiht der Erinnerung an die 68er in einigen lateinamerikanischen Ländern, vor allem Mexiko, eine große Aktualität. Bis heute wird in diesen Ländern die juristische Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen der 60er und 70er Jahre gefordert. Durch die staatliche Unterdrückung in Lateinamerika war die Kulturproduktion rund um '68 eingeschränkt und die KünstlerInnen nutzten daher indirekte Darstellungen und semi-klandestine Verbreitungsformen. Dagegen kann zur selben Zeit in Westeuropa Kunst und Kultur als vergleichsweise frei bezeichnet werden.
Nach einer fast 20-jährigen Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs in Westeuropa und vor allem in Westdeutschland nach Ende des Zweiten Weltkrieges führte die weltweite Rezession von 1966/67 zu einem kurzzeitigen Einbruch der Konjunktur. Doch durch den Eingriff der Großen Koalition erholte sich die deutsche Wirtschaft schnell wieder. In Lateinamerika mehrten sich dagegen die wirtschaftlichen Krisenerscheinungen und es offenbarten sich immer stärker die Strukturprobleme der lateinamerikanischen Volkswirtschaften. Die Regierungen standen den Wirtschaftskrisen oft hilflos gegenüber. In den 60er Jahren entstand die Dependenztheorie, die die wirtschaftliche Unterentwicklung Lateinamerikas mit der Abhängigkeit von den westlichen Industrieländern erklärt. Die westeuropäische StudentInnenbewegung war aus dieser Sicht eigentlich „Teil des Problems“. Sie solidarisierte sich jedoch mit der „unterdrückten“ sogenannten Dritten Welt, die in der Dependenztheorie als Opfer des westlichen Wirtschaftsimperialismus, vor allem dem der USA, erscheint. Der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano schrieb in seinem berühmten Werk „Die offenen Adern Lateinamerikas“: „[Sie] vergessen [...], dass eine Legion von Piraten, Händlern, Bankiers, Marines, Technokraten, Green Berets, Botschaftern und nordamerikanischen Industriekapitänen sich im Laufe einer dunklen Geschichte des Lebens und des Schicksals der Mehrzahl der Völker im Süden bemächtigt haben und dass augenblicklich auch die Industrie Lateinamerikas am Grunde des Verdauungsapparates des Imperiums ruht.“ (6) Diese Abhängigkeit und Perspektivlosigkeit der wirtschaftlichen Situation fachte in Lateinamerika die Frustration und Rebellion der Studierenden an. Die extrem ungleiche Vermögensverteilung zwischen wenigen Reichen und dem Heer der Armen ließ sozialistische Forderungen in der StudentInnenbewegung und später auch in den Guerillagruppen stark werden. Einzelne Guerillas begegneten dieser Ungleichheit auch durch direkte Aktionen wie die Vertreibung von Großgrundbesitzern und die Umverteilung von Land an arme Bauern.
Im internationalen Kontext spielten vor allem die erfolgreiche Kubanische Revolution, aber auch der geographisch weiter entlegene Pariser Mai und der Krieg der USA gegen das kommunistische Nordvietnam eine Rolle. Der Vietnamkrieg wurde dies- und jenseits des Atlantiks als imperialistischer, neokolonialistischer Krieg der Weltmacht USA gegen einen kleinen Staat gesehen, der sich auf dem „richtigen“ kommunistischen Weg befand. In Lateinamerika kam noch die Sorge über ein Ausgreifen des Imperialismus und Neokolonialismus der USA in den Süden des Kontinents hinzu. So lässt sich resümieren: Trotz der in Europa und Lateinamerika – und in jedem einzelnen Land – jeweils spezifischen Rahmenbedingungen gab es kontinentübergreifend durchaus ein Repertoire gemeinsamer politischer, theoretischer, literarischer und kultureller Bezugspunkte. Beides, Unterschiede wie Gemeinsamkeiten, sind Thema des vorliegenden Buches.
Markus Rauchecker