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Das Lateinamerika-Institut trauert um Prof. Dr. em. Renate Rott

News vom 06.02.2025

Das Lateinamerika-Institut trauert um
Prof. Dr. em. Renate Rott,
die am 31. Januar 2025 im Alter von 87 Jahren verstorben ist.

 

Die Soziologin, Lateinamerikaexpertin und Frauen- und Geschlechterforscherin Renate Rott ist am 31. Januar 2025 in Berlin verstorben. In ihrem wissenschaftlichen Werdegang war sie oft die einzige oder eine der wenigen Frauen: In den 1970er Jahren promovierten und habilitierten sich nur wenige Wissenschaftlerinnen. Renate Rott promovierte 1975 in Soziologie mit einer Arbeit über die mexikanische Gewerkschaftsbewegung und habilitierte sich 1979 über Industrialisierung und Arbeitsmarkt in Mexiko und Kolumbien. Als sie 1981 an die Freie Universität berufen wurde, war sie die erste Professorin sowohl am Institut für Soziologie als auch am Lateinamerika-Institut. Dort legte sie die Grundlagen für die Frauenforschung, die sie mit der Lateinamerikaforschung verband. Zugleich veränderte sie die Geschlechterforschung durch ihre wissenschaftlichen Beiträge, ihre weltweiten Netzwerke, ihr Engagement in vielen Bereichen der internationalen Zusammenarbeit aber auch institutionell an ihrer Universität.

Renate Rotts wissenschaftliches Leben war geprägt von Begegnungen, Einmischungen und Erzählungen.

Gerade weil sie andere Wege ging als die meisten ihrer männlichen Kollegen, erlebte sie besondere Begegnungen. Renate Rott, geboren am 1. August 1937, ging nach ihrer Ausbildung zur Bibliothekarin in Köln 1960 zunächst nach New York und arbeitete in der Public Library in Brooklyn. Mit dem dort Ersparten erfüllte sie sie sich einen Kindheitstraum und unternahm ihre erste Reise durch Lateinamerika - nach Ecuador zum Chimborazo. Über Mexiko und die USA kehrte sie nach Deutschland zurück. In München begann sie 1964, tief geprägt von ihren Begegnungen und Erfahrungen in den von rassistischen Konflikten bestimmten USA und dem sozial und ethnisch tief gespaltenen Ecuador, das Studium der Soziologie, den Politischen Wissenschaften sowie der Wirtschafts- und Sozialgeschichte.

Mitten in der Studentenbewegung schloss sie 1968 ihr Soziologiestudium an der Freien Universität Berlin ab und absolvierte von 1969 bis 1970 einen Studienaufenthalt an der ebenfalls von Studierendenprotesten geprägten University of California in Berkeley. Es folgten Forschungsaufenthalte 1974 am Institute of Development Studies der University of Sussex und zwischen 1986 und 1987 am St. Antony’s College in Oxford sowie Gastaufenthalte an zahlreichen Universitäten in Lateinamerika. Am einschneidendsten war für sie ihre Gastprofessur von 1979 bis 1981 an der Universidade Federal do Ceará in Fortaleza im Nordosten Brasiliens, wo sie die Repressionen der brasilianischen Militärdiktatur hautnah miterlebte.

Lateinamerika, das sie seit ihrer ersten Reise nicht mehr losgelassen hat, wurde zu ihrem wissenschaftlichen und emotionalen Bezugsraum. Fragen der Ungleichheiten, der Unterdrückung, der Ausbeutung und des Widerstands bestimmten in der Folge ihre wissenschaftlichen Arbeiten und ihre politischen Einmischungen.

Sie war lange Zeit eine der wenigen Lateinamerikawissenschaftlerinnen in Deutschland, die sowohl im spanischsprachigen Raum, vor allem Mexiko und Kolumbien, als auch im portugiesischsprachigen, Brasilien, lehrte und forschte. Zugleich war sie durch ihre Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität und Forschungs- und Arbeitsaufenthalte auch mit den USA vertraut.

Sie liebte die vielfältigen Begegnungen mit unterschiedlichen Menschen auf ihren Reisen und während ihrer Arbeitsaufenthalte. Sie empörte sich über Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, im Alltag und in wissenschaftlichen Kontexten, und sie mischte sich ein.

Ihre Einmischungen spielten sich auf unterschiedlichen Ebenen ab. Zunächst durch die Wahl ihrer Lehr- und Forschungsthemen. Innerhalb der weitgefassten soziologischen Makrothemen „Entwicklung und Arbeit, Demographie und Urbanisierung“ verlor sie nie den Blick für das Lokale und Spezifische. Davon zeugen ihre Studien über den „trüben Frieden“ in der mexikanischen Provinz Aguascalientes, über sexuelle Gewalt in der kolumbianischen Kohleregion Sesquilé oder über die Ausbeutung von Frauen im Nordosten Brasiliens. Dabei versuchte sie, bei aller Skepsis und Distanz, aber ohne Distanzierung, die Perspektive der Menschen als gesellschaftlich Handelnde aufzuzeigen und sie „nicht nur als Objekt des Handelns anderer“ zu erforschen. Lange bevor von „Augenhöhe“ die Rede war, waren ihre Begegnungen von selbstverständlichem Respekt und tiefer Empathie geprägt.

Die Einmischung durch Themensetzung und Agenda-Setting ist Renate Rott im Bereich der Frauen- und Geschlechterforschung eindrucksvoll gelungen. Die geschlechtsspezifische Segmentierung der Arbeitsmärkte und die Diskriminierung von Frauen gehörten für sie ebenso zur Analyse von Gesellschaft wie die Befassung mit sozialen Wirklichkeiten, die durch „rigide Klassen- und Schichtstrukturen“, „kulturelle und ethnische Differenzen sowie … strukturelle und sexuelle Gewalt“ bestimmt sind. Ihre Verbindung von Lateinamerika- und Frauenforschung brachte nicht nur innovative Forschung hervor, sondern veränderte auch das Lateinamerika-Institut und öffnete die Frauenforschung an der Freien Universität für global vergleichende Fragestellungen. In diesem Zusammenhang wurden Rente Rott und der von ihr gegründete Arbeitsschwerpunkt „Frauen und Dritte Welt“ zu einem Zentrum für viele Nachwuchswissenschaftlerinnen, die in verschiedenen Disziplinen und Weltregionen an ähnlichen Fragestellungen arbeiteten. Dissertationen und Habilitationen zu Themen der Frauen- und Geschlechterforschung nicht nur zu Lateinamerika, sondern auch Asien, Afrika, Europa und Deutschland wurden bei der einzigen Soziologieprofessorin, die über europäische und außereuropäische Expertisen verfügte, eingereicht. Durch ihre Schwerpunktsetzung eröffnete sie die Möglichkeit, am Lateinamerika-Institut und weit darüber hinaus interdisziplinär und vergleichend zu arbeiten.

Aber auch auf institutioneller Ebene mischte sie sich ein. Hochschulpolitisch setzte sie sich für die institutionelle Etablierung der Frauen- und Geschlechterforschung an der Freien Universität ein und trug durch ihr aktives Engagement als Mitherausgeberin der „Edition Ergebnisse der Frauenforschung“ wesentlich dazu bei, dass durch dieses einzigartige Publikationsprojekt, die Frauenstudien von Nachwuchswissenschaftlerinnen an der Freien Universität weithin sichtbar wurden. Vor ihrer Emeritierung erhielt sie 2002 den Margherita-von-Brentano-Preis für ihr wissenschaftliches Lebenswerk und die Förderung von Nachwuchswissenschaftlerinnen.

Ihre wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den vielfältigen sozialen Bewegungen und insbesondere der Frauenbewegung war eine Einmischung, die über die Universität hinausging und sie zugleich veränderte. Außerhalb der Universität mischte sie sich am deutlichsten in die Entwicklungspolitik ein, die sie kritisch begleitete. Zahlreiche Evaluationen und Berichte zu Projekten der internationalen Zusammenarbeit, wissenschaftliche Beiträge und Lehrveranstaltungen zeigten dabei immer wieder, wie sie darauf insistierte, die Bedeutung von Frauen für Entwicklung und Unterentwicklung aber auch die Effekte dieser Prozesse auf Frauen in den Blick zu nehmen.

Alle, die Renate Rott kannten, werden sich an ihre Geschichten erinnern, mit denen sie uns an ihren Reisen, Begegnungen und Einmischungen teilnehmen ließ. Auch wenn ihre Erzählungen meist heiter klangen, so konnten sie in Kritik, ja Wut umschlagen, thematisierten sie doch immer den harten Kern von Ungerechtigkeit, Ausgrenzung und Abhängigkeit. Aber sie erzählte nicht nur Geschichten, sondern brachte ihre Studierende mit der wissenschaftlichen und kulturellen Produktion sowie mit der Alltagserfahrung von Menschen aus Lateinamerika und anderen Weltregionen in Verbindung.

Mit Renate Rott verliert das Lateinamerika-Institut eine international renommierte Lateinamerika- und Frauenforscherin, die für eine Soziologie in vergleichender Perspektive und für eine gerechtere Geopolitik des Wissens stand.

Das Lateinamerika-Institut wird über Zeit und Ort der Beerdigung informieren.

Im Sommersemester 2025 ist eine Gedenkveranstaltung geplant; Ort und Zeitpunkt wird noch bekannt gegeben.

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