Institutional Landscapes. Eine explorative Ethnographie neuer staatlicher Institutionen unter dem Stress extremer Gewalt – die Suchkommissionen in Mexiko und Kolumbien
Freie Universität Berlin
Lateinamerika-Institut (FU)
DFG
Die entmenschlichende Gewalt des Verschwindenlassens, la desaparición forzada, wie sie in Lateinamerika zu Diktaturzeiten perfektioniert wurde, ist heute noch immer eine der ungelösten Menschenrechtskrisen des Kontinents, und zwar besonders in Mexiko und Kolumbien, wo gegenwärtig jeweils über 100.000 Menschen als gewaltsam verschwunden registriert sind. Das explorativ und relational angelegte Projekt Institutional Landscapes untersucht mittels eines innovativen Forschungsdesigns, wie zwei vergleichsweise junge staatliche Behörden – die in beiden Ländern jeweils 2018 eingesetzten Kommissionen zur Suche nach gewaltsam Verschwundenen, die einen "neuen" Umgang mit diesem Gewaltphänomen verkünden – konkret agieren und kommunizieren, wie dieses Handeln und Kommunizieren von Gewaltbetroffenen und anderen Akteuren wahrgenommen wird und auf soziale Imaginarios des Staates zurückwirkt. Wie konstituiert, zeigt und inszeniert sich eine solche neue Staatlichkeit unter dem Stress der ungelösten Gewalt, sowohl im Innern wie an ihren Rändern, wie wird sie erlebt und imaginiert? Wovon hängt im Kontext einer tief verankerten Staatsskepsis und 'Kultur der Straflosigkeit' das Entstehen von Vertrauen, Glaubwürdigkeit und Legitimität ab? Wie verändern – oder reproduzieren – sich die Erfahrungen mit oder Bilder von Staatlichkeit? Und an welche Grenzen stößt das Versprechen eines 'neuen Staates' – auch seiner Zugänglichkeit und Erforschbarkeit?
Um Beiträge zur Beantwortung dieser Fragen zu leisten, sollen zudem Forschungsmethoden aus dem Werkzeugkasten der Kulturanthropologie und -wissenschaften erprobt und kombiniert werden. Neben in der Forschungspraxis von A. Huffschmid bereits bewährten Zugängen der Ethnographie und der foto/videobasierten Forschung, sowie der Bild- und Diskursanalyse, werden sensorische Zugänge zur Rekonstruktion institutioneller Atmosphären erprobt– etwa die Soundscapes von Eingangs- und Schwellenbereichen – , die Kartierung oder Modellierung behördlicher Architekturen oder der Einsatz transmedialer Dispositive für den Forschungsprozess. Ergebnisse – auch zum methodischen Mehrwert einer solchen experimentellen oder sensitiven Politikforschung – werden in einer multimodalen Plattform zugänglich gemacht.
Inhaltlich wie methodologisch knüpft die Studie an das von A. Huffschmid zuvor durchgeführte Forschungsprojekt Forensic Landscapes (2013-2020) an, das u.a. in die gleichnamige preisgekrönte Webdokumentation (www.forensiclandscapes.com) mündete. Während dieses Projekt forensische Prozesse in Mexiko und anderen Teilen Lateinamerikas mit ethnografischen und audiovisuellen Methoden untersuchte und in erster Linie nichtstaatliche Akteure (regierungsunabhängige Forensik-Teams, selbstorganisierte Suchbrigaden) in den Blick nahm, blieben staatliche Behörden, weithin als ineffizient, indifferent oder gar kriminell wahrgenommen, als eine Art Leerstelle markiert. Lag der Fokus damit gewissermaßen 'vor den Toren des Staates' so nimmt das neue Projekt einen Perspektivwechsel vor und fokussiert nun auf ‚das Innere‘ staatlicher Institutionen und dessen Schnittstellen zu dem zivilgesellschaftlichen Außen. Unter dem „Vergrößerungsglas“ einer erweiterten Institutionenethnographie werden Alltagsleben, Praktiken, Interaktionen und Atmosphären in Innen-, Grenz- und Schwellenräumen ‚unter die Lupe‘ genommen. Schließlich werden die für Mexiko und Kolumbien rekonstruierten Behördenlandschaften zueinander in Beziehung gesetzt, um Unterschiede aber auch übergreifende Muster und Verflechtungen kenntlich zu machen.
Finanzierung: Deutsche Forschungsgemeinschaft (August 2024-Juli 2027)