Der regionale Forschungsschwerpunkt Brasilien am LAI
Forschungskonzeption und Profil der Brasilianistik und des Brasilienschwerpunkts am LAI
I.Zielsetzung
II. Methoden und Prinzipien
III. Teilbereiche der Schwerpunktforschung
1.Bereich der Brasilianistik (brasilianische Literatur und Kultur)
1.1.Die Rolle der Brasilianistik als Literaturwissenschaft und als Schnittstelle
1.2.Texte, Gattungen und GrenzeTexte
1.3.Kulturelle Transfer- und Übersetzungsprozesse: Übersetzung als angewandte Literaturwissenschaft
1.4.Komparative Ansätze
2.Bereich der Soziologie (Politik und Gesellschaft Brasiliens)
3.Bereich der Ökonomie (wirtschaftliche Entwicklung und Unterentwicklung)
4.Interdisziplinärer Bereich (nationale/kulturelle Identitätskonstruktionen)
4.1.Diskurse der Konstruktion der Nation
4.2.Regionale / ethnisch-kulturelle Identitätsdiskurse
4.3.Literatur, Sprache, Kommunikation und Ausbildung
4.4. Umsetzung in der Lehre
IV. Kooperationspartner
1.Institutionen in Deutschland, mit denen Kooperationen bestehen oder angestrebt werden
2.Institutionen in Brasilien und international, mit denen Kooperationen bestehen oder angestrebt werden
V.Laufende Promotionsverfahren
VI. Laufende Postdoc-Projekte
I. Zielsetzung
Im Zentrum der am LAI vertretenen Brasilienforschung steht die Beschreibung und Analyse von Modernisierungsmechanismen und –erfahrungen in Brasilien in ihrer historischen Dimension und im Hinblick auf die gegenwärtigen Transforma¬tionsprozesse, denen aufgrund der Globalisierung eine neue und zukunftsweisende Bedeutung zukommt. Für eine angemessene Beschäftigung mit diesen gesellschaft¬lichen, politischen, ökonomischen und kulturellen Modernisierungsverläufen können jedoch nur bedingt die mit dem europäischen Modernisierungsprojekt verbundenen Konzepte und Theorien als analytischer Bezugspunkt zugrunde gelegt werden. Mit Hilfe geeigneter interdisziplinärer, komparatistischer und kontextbezogener Frage¬stellungen geht es vielmehr darum, zum einen die Verschiebungen und Verwerfun¬gen einer „peripheren Modernisierung“ zu erkunden, zum anderen aber vor allem, jenen spezifisch neuen Strukturen und den entsprechenden konstitutiven Wissens¬diskursen Rechnung zu tragen, welche die Modernität Brasiliens als einen Teilbe¬reich der „fragmentierten Moderne“ Lateinamerikas ausweisen. Zur Erforschung die¬ser komplexen Phänomene wollen die am LAI vertretenen Disziplinen, die schon seit längerem besonders eng auf dem Gebiet der Brasilianistik (Literatur und Kultur), der Soziologie und der Ökonomie zusammenarbeiten, ihre Energien weiter bündeln und gemeinsame interdisziplinäre und komparatistische Aufgabengebiete entwickeln.
II. Methoden und Prinzipien
Die Entgrenzung sozialer, politischer, ökonomischer und kultureller Prozesse führt dazu, dass die Beschäftigung mit einem bestimmten Land erst einen intellektu¬ellen Sinn macht, wenn sie:
- interdisziplinär ist: Dabei wird weder die Verschwimmung der Grenzen zwi¬schen den Fächern verstanden, auf denen die individuelle Kompetenz der mitwirken¬den WissenschaftlerInnen basiert, noch ein einheitlicher theoretischer Ausgangs¬punkt, der in diesem Fall höchst schwach und schwammig ausfallen würde. Interdis¬ziplinarität nennt hier die intersubjektive Bemühung, eine Überschneidungszone spe¬zifischer Interessen zu finden, in der die verschiedenen Disziplinen zu einem Dialog kommen, ohne dabei auf ihre spezifischen Methoden und erkenntnistheoretische Prägnanz verzichten zu müssen.
- komparativ ist: Genauer betrachtet wurde die Forschung zu Brasilien immer ein Vergleich, da die analytischen Modelle aus dem brasilianischen Kontext hervorgingen. Die Kulturwissenschaften behielten noch eine gewisse Autonomie, da sie mal nationalistisch mal kosmopolitisch einem eigenen ästhetischen Ideal nach¬gingen. Hier machten bzw. machen sowohl Kulturproduzenten als auch Kulturkritiker die widersprüchliche Komplementarität von Rezeption und eigener Produktion der Diskurse über die Moderne zu einem zentralen Thema. Nun handelt es sich darum, in den verschiedenen Disziplinen den impliziten Vergleich zu offenbaren, um in Rah¬men einer vernetzten Wissenschaftslandschaft die Konstruktion neuer Ansätze aktiv prägen zu können.
- kontextbezogen ist (im Sinne von nicht a-historisch): Hier geht es um die Be¬mühung, die untersuchten Phänomene in eine logische Rahmung einzuordnen, so dass die zur Disposition stehenden Handlungsmuster, die vorhandenen Machtver¬hältnisse und die Reichweite der beobachteten Transformationen stets mit berück¬sichtigt werden.
III. Teilbereiche der Schwerpunktforschung
1.Bereich der Brasilianistik (brasilianische Literatur und Kultur)
1.1. Die Rolle der Brasilianistik Literaturwissenschaft und als Schnittstelle
Das Lateinamerika-Institut ragt besonders durch seine internationalen und in¬terdisziplinären Aktivitäten hervor, zu denen das seit 1997 von der ersten und einzigen Professur in Deutschland vertretene Fachgebiet Brasilianistik viel beigetragen hat. Im Kontext mit dem Institut ist er gleichzeitig Mittel zur Vertiefung der spezifischen Untersuchungen zur Literatur und Kultur des größten südamerikanischen Landes und gleichzeitig nicht nur ein Faktor des intensiven interdisziplinären Austauschs mit der Hispanoamerika¬nistik, sondern auch Schnittstelle zu den anderen hier vertretenen Disziplinen, be¬sonders der Soziologie, der Politologie, der Geschichte und der Ökonomie. Die Bra¬silianistik arbeitet mit diesen Disziplinen eng zusammen und wird dies auch weiterhin interdisziplinär tun, um über den so genannten landeskundlichen Charakter der bra¬silianischen Untersuchungen hinauszugehen, indem eine regionale Tendenz der Forschungen über Brasilien gefördert und definiert wird, die stark an die Themen an¬knüpfen, mit denen sich die Forschungsprogrammatik des Instituts Fragmentierte Moderne und Kulturelle Dynamik beschäftigen, wie z.B. die Themen Modernisierung und Globalisierung.
1.2. Texte, Gattungen und Grenze
Ein zentraler Bereich ist die Auseinandersetzung mit dem literarischen Feld Brasiliens, das in seiner Vielschichtigkeit sowohl von literaturwissenschaftlichen als auch von kulturwissenschaftlichen Fragestellungen definiert wird. Im Bereich der Lite¬ratur werden nämlich besonders häufig Kontinuitätsbrüche und Verwerfungen sicht¬bar, die von einem traditionell philologischen Standort aus nicht mehr adäquat be-griffen werden können.
Das Wissen über die Produktivität der Sprache und ihre Organisationsformen verbindet sich daher mit der Erforschung der literarischen Texte in Bezug auf die kulturellen Repräsentationsformen und Symbolisierungsprozesse sowie deren histo¬rischer, politischer, sozialer und geschlechterspezifischer Erörterungszusammen¬hänge. Der Begriff des „Textes“ in seiner literatur- und kulturtheoretischen Komple¬xität bildet dabei den zentralen methodologischen Referenzpunkt (der auch auf ähn¬liche konzeptuelle Entwicklungen in der jüngeren Anthropologie und Geschichtswis¬senschaft verweist). Die Arbeit über das literarische Feld Brasiliens umfasst daher die Erschließung von Texten unterschiedlichster Gattungen (Hoch- und Populär- bzw. Massenkultur) und die Untersuchung ihrer poetischen Organisationsformen so¬wie ihre Produktions- und Rezeptionsgeschichte auf nationaler wie internationaler Ebene und die Gründe ihres Ein- bzw. Ausschlusses aus dem Kanon.
Einen wichtigen Arbeitsschwerpunkt, betreut von Lígia Chiappini, bildet die Untersuchung der regionalen Literaturen und Kulturen, wobei das Phänomen der „Grenze“ im konkreten, d.h. räumlichen und im übertragene Sinne in mehrfacher Hin¬sicht einen analytischen Konvergenzpunkt darstellt (zum Forschungsprojekt von Lígia Chiappini Leite, s.u.). Ein weiteres zentrales Forschungsgebiet betrifft das Verhältnis zwischen literarischen und nicht-literarischen Diskursen, vor allem zwischen dem historischen Roman und historischen Zeugnissen bzw. Darstellungen. Im Schnitt¬punkt solcher Überlegungen steht der Essay als Gattung, der eines der Hauptar¬beitsgebiete von Ligia Chiappini und Berthold Zilly bildet und immer wieder zur Zusammenarbeit mit Historikern und anderen Sozialwissenschaftlern führt.
1.3. Kulturelle Transfer- und Übersetzungsprozesse: Übersetzung als angewandte Literaturwissenschaft
Das Übersetzen in der theoretischen Reflexion und als praktische Fertigkeit bildet einen bedeutenden Arbeitsbereich in Forschung und Lehre in der Lateinameri¬kanistik, für den überwiegend Berthold Zilly zuständig ist. Der Übersetzer, Überset¬zungskritiker und Übersetzungswissenschaftler ist für den Kulturtransfer auf der sprachlich-ästhetischen Ebene zuständig und untersucht dessen spezifische Funk¬tionsweisen zunächst wesentlich auf der konkreten Textebene. Diese Tätigkeit bedarf in hohem Maße der literaturwissenschaftlichen Reflexion und setzt gleichzeitig eine umfassende kulturelle Kompetenz in der Ausgangs- und in der Zielkultur voraus. Über die konkrete Textebene hinaus ist der geschärfte Blick des Übersetzers und Translationswissenschaftlers aber auch besonders geeignet, die Mechanismen des kulturellen Transfers auf der Ebene der kollektiven Vorstellungen, Ideologien, Werte und symbolischen Ordnungssysteme zu untersuchen und die stattfindenden Trans¬formationen im jeweils anderen kulturellen Kontext, die Reinterpretationen und eventuellen Missverständnisse zu erläutern. Das Übersetzen wird also als zentraler Bestandteil kultureller Austauschprozesse verstanden und gehört daher nicht nur zur literatur- und kulturwissenschaftlichen Tätigkeit der Lateinamerikanistik und Brasilia¬nistik, sondern berührt auch die Fragen des interkulturellen Wissenstransfers in allen anderen humanwissenschaftlichen Disziplinen am LAI. Beispiele sind die abge¬schlossenen Übersetzungsprojekte zweier großer Romane von Berthold Zilly (Os Sertões, Lavoura Arcaica) und die Anthologie des großen Essayisten Antonio Candido, die von Ligia Chiappini organisiert und von Marcel Vejmelka übersetzt wird (in der Endphase) und die Teil des Projekts “Pensadores Latinoamericanos“ ist.
1.4. Komparative Ansätze
Die Brasilienforschung definiert sich im Kontext der Forschung über die „frag¬mentierte Moderne“ in Lateinamerika. Aus diesem Grunde wird auch innerhalb des Brasilienschwerpunkts großen Wert auf vergleichende Fragestellungen gelegt – me¬taphorisch gesprochen geht es darum, die alte Teilung der iberoamerikanischen Welt durch den „Vertrag von Tordesillas“ endgültig überwinden zu helfen. Dies gilt einer¬seits für die im engeren Sinne literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungsvor¬haben, wie zum Beispiel das Projekt über die Grenzkulturen (s.o. Punkt II b), für komparatistische Untersuchungen bestimmter Textsorten (literarische Gründungs¬texte, Essay etc.) oder die Ausdrucksformen der Populärkultur und der Medien. Auf der anderen Seite ist es auch für die disziplinenübergreifenden Fragestellungen wie etwa die Problematik der regionalen und sozialen Spaltung bzw. der Ausdrucksfor¬men von „Ungleichzeitigkeit“ im Modernisierungsprozess Brasiliens und anderer la¬teinamerikanischer Gesellschaften von zentraler Bedeutung.
2. Bereich der Soziologie (Politik und Gesellschaft Brasiliens)
Ein weiteres Forschungsgebiet, insbesondere von Sérgio Costa (Soziologie) vertreten, bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen Öffentlichkeit, Demokrati¬sierung, Rassenvorurteilen und die Problematik der Identitätskonstruktion, gerade im Zeichen der Globalisierung. Mit der Umstrukturierung der geisteswissenschaftlichen Agenda durch die Globalisierung gewinnt die Untersuchung von Transformationspro¬zessen in den sog. peripheren Gesellschaften, wie Brasilien, eine neue Bedeutung. Doch die dabei erfassten Phänomene zeigen die Grenzen von noch vorherrschen¬den Ansätzen, bei denen die Modernisierungserfahrungen nordatlantischer Gesell¬schaften als ein universelles Parameter gelten, soziale, kulturelle, ökonomische und politische Transformationen weltweit einzuordnen. Danach ist der Modernitätsgrad einer bestimmten Gesellschaft unmittelbar davon abzuleiten, wie sich ihre Institutio¬nen, Werte und sozialen Praktiken den in den Industriegesellschaften vorherrschen¬den Mustern annähern. Diese Dichotomie eines modernen ”Westens” vs. eines traditio¬nellen ”Rests” der Welt fungierte für fast ein Jahrhundert exogen und endogen als Steuerungsachse der Modernisierungsprojekte in vielen Gesellschaften.
Dabei wurde die Modernisierung Brasiliens bis ins Detail sowohl von Politikern als auch von Geisteswissenschaftlern als eine Projektion des europäischen - später nordamerikanischen - Spiegels konzipiert und zwar gegen alle empirisch erfassbaren Entwicklungen. Diese zeigen folgendes:
a) Transformationsprozesse in Brasilien führen nicht zur Entstehung von einer mangelhaften Kopie der Industriegesellschaften, sondern zur Herausbildung neuer Strukturen, die sich in der Dichotomie Tradition/Moderne nicht umschreiben lassen.
b) Statt einer einseitigen Abhängigkeit zwischen Zentrum und Peripherie konstatiert man eine Interdependenz. Kommt diese Verflechtung deutlich im Kultur¬bereich durch die globale Darbietung bzw. Vermarktung alter und neu erfundener ”Traditionen” zum Vorschein, so sind interdependente Verhältnisse ebenfalls im so¬zialen und wirtschaftlichen Bereich zu beobachten, da Vergesellschaftungsformen oder sogar Marktstrukturen aus der "Peripherie” in den Geburtsort des Industrieka¬pitalismus eindringen – wirtschaftliche und soziale “Brasilianisierung”.
c) Politisch-normativ hat sich die Erwartung, dass die „Modernisierung” von Gesellschaften wie Brasilien automatisch mehr Wohlstand und sozialen Frieden mit sich bringen würde, historisch als eine bittere Illusion erwiesen. Durch die Urbanisie¬rung und die Industrialisierung wurden alte Probleme wie Armut und soziale Un¬gleichheiten zugespitzt, dazu sind neue moderne Schwierigkeiten wie soziale Desin¬tegration, Umweltzerstörung und eine Drogenwirtschaft entstanden.
3. Bereich der Ökonomie (wirtschaftlichen Entwicklung und Unterentwicklung)
Die „Fragmentierung“ der Moderne zeigt sich besonders krass bei der wirt¬schaftlichen Entwicklung bzw. Unterentwicklung Brasiliens und seiner verschiedenen Bevölkerungsgruppen. So ist das Neben- und Miteinander von Arm und Reich, Mo¬dern und Archaisch, sowie - wichtiger noch - die Verschmelzung oder Hybridität von ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen und ideologischen Phänomenen zu Struk¬turen sui generis ein besonders interessierendes Feld in der Ökonomie. Die Funk¬tionsbedingungen der modernen Geldwirtschaft erfordern nun einmal bestimmte Vor¬aussetzungen für Wachstum und Wohlstandssteigerung. So stehen sich in Brasilien archaische, moderne und post-mo¬derne Wirtschaftsweisen und ihre Hybridformen in der gesellschaftlichen Praxis und in den intellektuellen Entwürfen und Theorien gegenüber. Ob in der Al¬terssicherung oder der Währungsreform, in der „Erschließung“ bzw. „nachhaltigen Entwicklung“ Amazoniens, in der Kleinst- und Kleingewerbefinanzierung und -förde¬rung in der Stadt oder der bäuerlichen Familienwirtschaft und ihrer nationalen wie internationalen Förderung oder Diskriminierung, - immer spielt die „strukturelle Hete¬rogenität“, wie die Formel für dieses Neben- und Miteinander in Lateinamerika seit den 1960er Jahren lautet, eine ausschlaggebende Rolle. Um den unterschiedlichen „genetischen Codes“ der ökonomischen Verhaltensweisen auf die Spur zu kommen, ist die interdisziplinäre Forschung unerlässlich.
Darüber hinaus ist die Frage nach Brasiliens Stellung als regionale Führungsmacht bei einem – immer wieder politisch anvisierten, aber bisher nie realisierten – Währungszusammenschluss im Rahmen des Mercosul zu stellen. Diese Frage erhält besondere Relevanz im Vergleich mit monetären Kooperationsprojekten in anderen Entwicklungsregionen der Welt wie Südostasien und dem südlichen Afrika.
4. Interdisziplinärer Bereich (nationale/kulturelle Identitätskonstruktionen)
4.1.Diskurse der Konstruktion der Nation
Die Geschichte der „Konstruktion der Nation“ und des kulturellen Gedächtnis¬ses ist ein weiterer Kernbereich der Brasilienforschung. Es war ein zentrales Anlie¬gen vieler brasilianischer Intellektueller, von José Bonifácio de Andrada e Silva bis Darcy Ribeiro, einen Beitrag zur Konstruktion der brasilianischen Nation zu leisten. Dabei wurde „Nation“ nicht als ontologisch vorgegebene Identität betrachtet, sondern als Prozess, geschichtlicher Auftrag, als Zukunftsvision, die es einst zu realisieren gilt. Einige der sogenannten Gründungstexte, wie z.B. José de Alencars Iracema und O Guaraní, Euclides da Cunhas Os Sertões, Gilberto Freyres Casa Grande e Sen¬zala, Érico Veríssimos O Tempo e o vento, haben den Charakter eines „Labors“, denn sie spielen alle Fragen und Hypothesen, Ahnungen und Formen der Darstel¬lung und Suche nach nationaler Identität durch. Unter diesem Gesichtspunkt steht vor allem die Arbeit über Euclides da Cunhas Werk im Zentrum der Forschungstätig¬keiten von Berthold Zilly, deren Veröffentlichung sich unter dem Titel A Nação e um Livro: ‘Os Sertões’ de Euclides da Cunha, um texto fundador, in Vorbereitung befin¬det (s. Anlage).
Es gibt ein bereits in die Wege geleitetes Gemeinschaftsprojekt mit internatio¬nalen und interinstitutionellen Kolleginnen und Kollegen über die großen brasiliani¬schen Essayisten mit dem Thema „Pensadores da América Latina“. Daran beteiligt sind die Freie Universität Berlin, die Universidade de São Paulo/Centro Ángel Rama und die Universidad de Chile. Ein erstes Ergebnis dieser Untersuchung befindet sich in der Endphase. Es handelt sich um eine Anthologie der Essays von Antonio Candido, einem der größten brasilianischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, der noch lebt und auch noch aktiv ist. Wie bereits weiter oben erwähnt, wird das Vorha¬ben von Ligia Chiappini organisiert, von Marcel Vejmelka ins Deutsche übersetzt und vom Vervuert Verlag, Frankfurt/M. veröffentlicht.
Unter den bereits vorliegenden Publikationen vgl. Lígia Chiappini: Érico Veríssimo: romance da História, Nova Alexandria / São Paulo 2001 sowie Literatura e Cultura no Brasil: Identidades e Fronteiras, IAI / CORTEZ/ CESLA 2002 und zu¬sammen mit Berthold Zilly: Brasilien, Land der Vergangenheit, Frankfurt: IAI-TFM 2000.
4.2. Regionale / ethnisch-kulturelle Identitätsdiskurse
Bei diesem Arbeitsgebiet geht es um die verschiedenen historischen und zeit¬genössischen Versuche, auf regionaler Ebene (bisweilen auch Nationengrenzen überschreitend) oder auch auf der Basis ethnisch-kultureller Zugehörigkeiten Identi¬täten zu konstruieren.
Exemplarisch wird dies von Lígia Chiappini in ihrem aktuellen Forschungs¬projekt über die Pampa-Region (Brasilien, Argentinien, Uruguay) untersucht (Projekt¬titel: Grenzkultur und Kulturelle Grenzen im Pampagebiet: Exemplarische Werke/ Cultura Fronteiriça e Fronteiras Culturais na Comarca Pampeana: obras exempla¬res). Die Beschäftigung mit der Gaucho-Kultur als einer Kultur, die sich mit und über die staatlichen Grenzen hinaus definiert und spezifische Identitätsdiskurse entwickelt, hat vor dem Hintergrund der Konstituierung des Mercosur eine besondere Relevanz, welche die Zusammenarbeit mit den Wirtschaftswissenschaften und anderen Sozial¬wissenschaften nahe legt und erforderlich macht.
In diesem Rahmen sind auch die Untersuchungen zur „afro-brasilianischen Kultur“ und ihrer Position im „schwarzen Atlantik“ (P. Gilroy) anzusiedeln (vgl. verschiedene Publikationen von Sergio Costa und das Buch aus der abgeschlosse¬nen Doktorarbeit von Patrícia Weis-Bonfim (2002) „Afrobrasilianische Literatur, Ge¬schichte, Konzepte, Autoren“. Mettingen: Brasilienkunde-Verlag, Institut für Brasilien¬kunde), wie auch zur jüdischen Kultur bzw. der Problematik des Antisemitismus in Brasilien und Lateinamerika), die auch in Zukunft eine wesentliche Rolle in der Brasi¬lienforschung spielen werden.
4.3. Literatur, Sprache, Kommunikation und Ausbildung
Dieses Gemeinschaftsprojekt wird mit Kolleginnen und Kollegen der Universi¬dade de São Paulo und Unicamp entwickelt. Es sollen die oben genannten Bereiche in Theorie und Praxis durch die Förderung und Verbreitung interdisziplinärer For¬schungen der Linguistik, der Literaturtheorie, der Kommunikation und der Erzie¬hungswissenschaften artikuliert werden, die in die Ausbildung von Lehrern des 1. und 2. Grades in Brasilien einfließen. Es gibt bereits 11 Bände dieser Buchreihe “Aprender e Ensinar com Textos”, die Ligia Chiappini (FU) und Adilson Citelli (USP) koordinieren, und die vom Cortez Verlag, São Paulo, veröffentlicht wurden.
4.4. Umsetzung in der Lehre
Die oben beschriebenen Forschungsthemen und –bereiche gehen in die Pla¬nung und Durchführung von Lehrveranstaltungen ein. Aufgrund der derzeitigen Um¬strukturierung der Studiengänge an der Freien Universität wurde auf der Basis des beschriebenen Forschungsprofils an die Einführung des Masterstudiengangs „Lateinamerika im Weltkontext“ mit einer Spezialisierungsmöglichkeit in einem Brasilienprofil, „Brasilien im Weltkontext“ gebaut. Die Realisierung bedarf der Zusammenarbeit mit anderen Diszipli¬nen am LAI, dem Fachbereich Fremdsprachliche Philologien der FU, der HU und der Universität Potsdam (s. Anlage). Gemeinsam wurde ein Bachelorstudiengang Portu¬giesisch-Brasilianische Studien, mit einem 60-Leistungspunkte-Modulangebot Portu¬giesisch-Brasilianische Studien für die Brasilien- und Portugalstudien und einem 30-Leistungspunkte-Modulangebot Portugiesisch (Portugal/Brasilien) entwickelt. Das LAI wird portugiesische Sprachkurse unter der Verantwortung von Berthold Zilly und Lite¬ratur- und Kulturkurse zu Brasilien unter der Verantwortung von Ligia Chiappini an¬bieten. Ferner ist ein interdisziplinäres 30-Punkte-Modul-Angebot Lateinamerika-Stu¬dien, von den am LAI vertretenen Disziplinen Geschichte, Politikwissenschaften, So¬ziologie und Wirtschaftswissenschaften in Planung.
Ein Bereich, der am Lateinamerika-Institut schon Tradition hat, könnte im Sinne einer besseren Nutzung und Weiterentwicklung noch verbessert werden, näm¬lich die audiovisuellen Medien, speziell Film und Fernsehen.
Die audiovisuellen Medien Film, Video und Fernsehen bedienen sich seit ihren Anfangszeiten literarischer Texte, geschichtlicher Ereignisse, soziologischer und genderbedingter Fragestellungen als Stoffvorlagen, um sie aufzugreifen, zu adapta¬tieren, umzugestalten oder neu zu interpretieren.
Wird die Verfilmung eines literarischen Textes, eines historischen Ereignisses oder einer soziologischen Fragestellung als eine mögliche Lektüre verstanden, deren Umsetzung in ein anderes Medium Distanz zur Ausgangsvorlage schafft, Brüche be¬gründet und neue Wahrnehmungsweisen einführt, so wird das Audiovisuelle eben¬falls zu einem lesbaren, entschlüsselbaren Text, der einer dynamischen Entwicklung unterlegen ist, wie jeder Text überhaupt. Die „sprachlichen“ Besonderheiten des vi¬suellen „Textes“ bzw. „Zeichensystems“ zu entschlüsseln, ist Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre ein in den philologischen Disziplinen neues Anliegen geworden.
Wie kein anderes Medium unterliegen die laufenden Bilder gesellschaftlichen Veränderungs- und Wahrnehmungsprozessen, die sie umgehend reflektieren. Vor allem die immanente Fragmentierung, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, das Spiel mit unterschiedlichsten Bildmaterialien, Montage, die mögliche Aktualisierung von historischem Material im neu Gefilmten erfordern Kenntnisse und Werkzeuge für eine systematisierte und fundierte Bildanalyse.
Bislang ist die Forschung im Rahmen der Brasilianistik in diesem Be¬reich nur punktuell erfolgt. Einen Höhepunkt fand sie in den 60er bis 80er Jahren als brasilianisches Kino in erster Linie als politisch-revolutionäres Kino verstanden wurde. Doch heute ist der Film als Medium in allen lateinamerikanischen Ländern fortgeschritten und bietet neue bislang noch weitgehend unerforschte diskursive Va¬rianten an, die sich aus sowohl europäischen, nordamerikanischen, asiatischen und nationalen Einflüssen speisen und jüngste politische Demokratisierungs- und/oder Globalisierungsprozesse nachvollziehbar machen.
Im Verbund mit verschiedenen Berliner Institutionen (Freunde der Deutschen Kinemathek, Ibero-Amerikanisches Institut PK, Ethnologisches Museum, ICBRA etc.) gibt es schon einen Entwurf von Dr. Ute Hermanns, ein Filmarchiv, ein DVD-Maga¬zin oder eine Videothek anzulegen, um die Geschichte des brasilianischen Films zu katalogisieren und zu dokumentieren und für Filmstudien am Lateinamerika-Institut nutzbar zu machen, u.a. in einem E-learning Modul.
Hauptamtlich beteiligt am Brasilienschwerpunkt sind:
- Univ.-Prof. Dr. Lígia Chiappini, als Leiterin der Brasilianistik, mit Schwerpunkten in der Literatur und Kultur Brasiliens in Lateinamerikanischem-und in Welt Kontext;
- Univ.-Prof. Dr. Sergio Costa, im Bereich Soziologie.
- Prof. Dr. Berthold Zilly, als Vertreter der Brasilianistik mit Schwerpunkten in der Literatur- und Übersetzungstheorie wie auch der Kultur- und Landeswissenschaft sowie der Sprachausbildung;
- Prof. Dr. Barbara Fritz, Juniorprofessorin im Bereich der Ökonomie.
Aus den anderen Disziplinen werden ebenfalls Beiträge zur Brasilienforschung geleistet.
IV. Kooperationspartner:
V. Abgeschlossene und laufende Promotionsverfahren
VI. Laufende Postdoc-Projekte