Die Lateinamerikaforschung im deutschen Kontext
Die Stadt Berlin entwickelte sich im 20. Jahrhundert zu einem bedeutenden Standort der regionalwissenschaftlichen Forschung. Die Beispiele Maria Sybilla Merians und Alexander von Humboldts verdeutlichen jedoch, dass das Interesse insbesondere an Lateinamerika im deutschen Raum bereits viele Jahre zuvor aufkam. Vor den 1910er- und 1920er-Jahren handelte es sich zunächst um eine weitestgehend sporadische wissenschaftliche Beschäftigung ohne institutionellen Rahmen. Durch das 1930 gegründete Ibero-Amerikanische Institut erhielt die Lateinamerikaforschung in Berlin neue Impulse.
Nach dem Zweiten Weltkrieg und auch bedingt durch die deutsche Teilung verlor das Institut jedoch vorübergehend seine zentrale Position. In der DDR rückten die Regionalwissenschaften Anfang der 1960er-Jahre in den Fokus von Politik und Wissenschaft. Neben der „Sektion Lateinamerikawissenschaften“ der Universität Rostock stellten Leipzig und Ostberlin bedeutende Forschungsstandorte dar. Auch in der Bundesrepublik wuchs die Bedeutung der Area Studies. Die Diskussionen um die Errichtung eines lateinamerikanischen Zentrums in Berlin und schließlich die Gründung des Lateinamerika-Instituts lassen sich in eine Phase weiterer Institutsgründungen in den 1960er-Jahren einordnen.
Berlin und Hamburg befanden sich in diesen Jahren in einem Konkurrenzverhältnis. Sie warben auf Bundesebene gleichermaßen um politische und finanzielle Unterstützung für die regionalwissenschaftliche Forschung. Als sich Anfang der 1960er-Jahre abzeichnete, dass die Hamburger Pläne bereits weit fortgeschritten waren und eine Institutsgründung in der Hansestadt unmittelbar bevorstand, bot Der Tagesspiegel seine Hilfe an. Ein Redakteur erkundigte sich bei den Berliner Initiatoren, ob nun der richtige Zeitpunkt gekommen sei, um einen Bericht über das Vorhaben in Berlin zu veröffentlichen und eine eigene Kampagne zu starten.
Innerhalb der Bundesrepublik entwickelte sich in den 1960er-Jahren ein Wettlauf um die Institutionalisierung der Lateinamerikaforschung, den Berlin für sich entscheiden wollte:„Wenn wir uns nicht beeilen, werden wir von den Hamburgern doch noch aus dem Felde geschlagen.“5
1912 | Deutsch-Südamerikanisches Institut, Aachen |
1917 | Ibero-Amerikanisches Institut, Hamburg |
1922 | Institut für Amerika-Forschung, Universität Würzburg |
1923 | Ibero-Amerikanisches Institut, Bonn |
1930 | Ibero-Amerikanisches Institut, Berlin |
1960 | Forschungszentrum zur Geschichte Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, Universität Leipzig |
1960 | Arbeitskreis Lateinamerika, Humboldt-Universität zu Berlin |
1961 | Iberoamerikanische Abteilung, Universität Rostock |
1961 | Lehrstuhl/ Abteilung für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte, Universität zu Köln |
1962/63 | Institut für Iberoamerika-Kunde, Hamburg |
1963/64 | Abteilung für Latein-Amerika am Romanischen Seminar, Freie Universität Berlin |
1968 | Sektion Lateinamerikawissenschaften, Universität Rostock |
1970 | Zentralinstitut Lateinamerika-Institut, Freie Universität Berlin |
1986 | Zentralinstitut für Lateinamerikastudien, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt |
Bedeutende Institutsgründungen in den zwei Phasen der Institutionalisierung der Lateinamerikaforschung im Deutschen Kaiserreich, in der Weimarer Republik, in der Bundesrepublik Deutschland bzw. in der Deutschen Demokratischen Republik. Aufstellung u.a. in Anlehnung an Wilhelm Lauer, „Deutsche Lateinamerika-Forschung“, in: Hans-Georg Wormit (Hg.), Jahrbuch Preussischer Kulturbesitz 1974/1975, Bd. XII, Berlin 1976, S. 71-86, hier S. 84.
5 Nachlass Hirsch-Weber, Sondersammlungen, IAI SPK, N-0086 b 15, Dok. 104, Hirsch-Weber an Reichenkron (4.10.1963).