Aufbrüche und Umbrüche – 50 Jahre Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin
Eine Ausstellung der Abteilung Geschichte des Lateinamerika-Instituts in Zusammenarbeit mit dem Universitätsarchiv der Freien Universität Berlin und dem Ibero-Amerikanischen Institut Stiftung Preußischer Kulturbesitz
Kuratiert von Karina Kriegesmann und Stefan Rinke unter Mitarbeit von Hannah C. Anizar Lucio, Holle A. Meding, Helena Santos da Costa, Jenny Schürmann und Mirjam Wüstnienhaus
Grafische Gestaltung von Karina Kriegesmann und Nienke Schellinkhout Diaz
Umgesetzt mit freundlicher Unterstützung der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin e. V. und des Lateinamerika-Instituts
Ausstellungseröffnung I 18. Juni 2022 I Henry-Ford-Bau der Freien Universität Berlin, Garystraße 35, 14195 Berlin → zur Bildergalerie Ausstellung I 20. Juni – 22. Juli 2022 I Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin, Rüdesheimer Str. 54-56, 14197 Berlin → zur Bildergalerie [Plakat pdf] → zur spanischsprachigen Version dieser Ausstellung → zur portugiesischsprachigen Version dieser AusstellungLateinamerika ist ein Kontinent in permanenter Bewegung, der seit Jahrhunderten Menschen in verschiedenen Weltregionen fasziniert und wissenschaftliche Neugierde weckt. Am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin ist das Interesse seit über einem halben Jahrhundert besonders stark ausgeprägt, findet doch die Beschäftigung in einem intensiven Austausch zusammen mit Lateinamerikanerinnen und Lateinamerikanern statt. Inmitten des Kalten Kriegs rückte Lateinamerika in den 1960er- und 1970er-Jahren in den Fokus vieler Menschen insbesondere in der Bundesrepublik. Der ,Kontinent der Revolutionen‘ erhielt unter anderem durch die Literatur des Booms, die Debatten um Entwicklung und ,Unterentwicklung‘ und schließlich durch die Diktaturen kontinuierliche Beachtung, die sich auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung niederschlug.
Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass das Lateinamerika-Institut, auch bekannt als LAI, 2020 sein 50. Gründungsjubiläum gefeiert hat, zeichnet sich doch die Institutsgeschichte durch verschiedene Brüche aus. In den vergangenen fünf Jahrzehnten stellten sich Herausforderungen für das Selbstverständnis und die Zukunft des Instituts: seien es das wachsende Interesse an den politisch umkämpften Regionalwissenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg, die auch durch die 1968er- Bewegungen hervorgerufenen Umstrukturierungen im Hochschulbereich und Diskussionen um die sogenannte ,Dritte Welt‘, das Aufeinanderprallen der Ideologien und die Auseinandersetzungen zwischen den Generationen, die Verletzung der Menschenrechte in Lateinamerika, die wachsende Mobilisierung der Studierenden oder die Sparmaßnahmen im Bildungssektor – all diese Entwicklungen sind eng mit der Geschichte des Instituts verbunden. Seinen Mitgliedern gelang es immer wieder, Momente des Umbruchs in Phasen des gemeinsamen Aufbruchs zu verwandeln.
Die Ausstellung ist das Resultat des im Wintersemester 2019/20 im Rahmen des Masterstudiengangs durchgeführten Projektkurses „50 Jahre LAI – Vorbereitung einer Ausstellung anlässlich des Jubiläums einer geschichtsträchtigen Institution“. Das Vorhaben hatte die Intention, die Geschichte des jüngsten regionalwissenschaftlichen Instituts der Freien Universität Berlin quellennah und kritisch zu bearbeiten. Ein besonderes Anliegen der Ausstellung besteht darin, bislang wenig bekannte Facetten vor allem der 1960er- und 1970er-Jahre zu präsentieren und in einem weit über die Universität hinausreichenden Rahmen zu interpretieren. Grundlegend für die Darstellung sind neben Gesprächen mit aktuellen und ehemaligen Institutsmitgliedern auch Nachlässe, Protokolle und Akten des Institutsrats, des Kuratoriums und des Akademischen Senats, offizielle Dokumente und Flugblätter, Vorlesungsverzeichnisse, Lehrmaterialien, Zeitungsberichte und persönliche Korrespondenzen, die im Lateinamerika-Institut selbst, im Universitätsarchiv der Freien Universität Berlin und im Ibero-Amerikanischen Institut konsultiert wurden.
1962 Zwischen Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft und Politik, insbesondere zwischen Mitgliedern verschiedener Institute der Freien Universität Berlin sowie des Ibero-Amerikanischen Instituts, entwickelt sich ein intensiver Austausch über die angestrebte Errichtung eines lateinamerikanischen Zentrums in Berlin.
1963 An einigen Universitäten in Süd- und Nordamerika weckt die Idee, in Berlin ein lateinamerikanisches Zentrum aufzubauen und den transatlantischen Austausch zu fördern, reges Interesse.
1964 Laut Beschluss vom Januar 1964 wird rückwirkend zum Beginn des Wintersemesters 1963/64 eine Abteilung für Latein-Amerika am Romanischen Seminar der Freien Universität Berlin eingerichtet, die in Anbetracht der Bemühungen der beteiligten Personen im Verlauf der 1960er-Jahre in ein eigenständiges interfakultatives Institut umgewandelt werden sollte.
1969 Das im August erlassene neue Berliner Hochschulgesetz schafft günstigere rechtliche Voraussetzungen zur Gründung interdisziplinärer Zentralinstitute und ermöglicht die Zusammenführung bislang getrennt voneinander verlaufender Aktivitäten.
1970 Im Anschluss an einen Beschluss des Kuratoriums der Freien Universität Berlin werden Anfang Juni Wahlen zu Kollegialgremien im geplanten Lateinamerika-Institut durchgeführt.
1970 Am 16. Juni findet die konstituierende Sitzung des Institutsrats statt, der fortan alle 14 Tage im Bibliotheksraum in der Brucknerstraße in Berlin- Lankwitz tagen soll. In der Folgesitzung legen die Mitglieder fest, dass die als Zentralinstitut 3 (ZI 3) bekannte Einrichtung den offiziellen Namen „Lateinamerika-Institut“ erhält.
1970/1971 Die durch ein Flugblatt und weitere Meinungsverschiedenheiten zwischen den Institutsmitgliedern ausgelösten Debatten münden bereits Ende Juni in einen tiefgreifenden Konflikt, der vier Personen zum Austritt aus dem Institutsrat bewegt und wenig später zum Weggang dreier Gründungsprofessoren führt.
1970 Im November legt das Lateinamerika-Institut der Zentralen Entwicklungs- und Planungskommission einen Entwicklungsplan vor, der den vollen Ausbau der sieben Disziplinen Altamerikanistik, Geowissenschaften, Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft und Philosophie, Politikwissenschaft, Soziologie und Wirtschaftswissenschaften vorsieht.
1971 Im April zieht das Lateinamerika-Institut in das ehemalige Reichsknappschaftsgebäude an den Breitenbachplatz.
1973 In Anbetracht der vielfach im Institutsrat thematisierten angespannten politischen und gesellschaftlichen Lage in Südamerika und der Konsequenzen der Diktaturen finden ausgewiesene Wissenschaftler etwa aus Chile eine vorübergehende Beschäftigung am Lateinamerika-Institut.
1973 Die institutseigene Publikationsreihe „Materialien zur Lehre und Forschung“ wird erstmals mit zwei Beiträgen über die Agrarreform in Peru und die Bildungspolitik im Rahmen des wirtschaftlichen Integrationsprozesses in Zentralamerika veröffentlicht.
1980 Am Institut werden die Grundlagen für die Frauen- und Geschlechterforschung gelegt, die unter anderem durch die seit 1984 durchgeführten Arbeitstagungen vorangetrieben wird.
1985 Der Westberliner Wissenschaftssenator plant die Entsendung einer internationalen Expertenkommission zur Erarbeitung von Vorschlägen für die Zukunft des Lateinamerika-Instituts, was in der Folge die Gerüchte um dessen mögliche Auflösung nährt.
1988 Das Kuratorium der Freien Universität Berlin entzieht dem Lateinamerika- Institut die Zuständigkeit für das Fach Lateinamerikanistik, woraufhin die Studierenden das Institut besetzen und damit im Wintersemester eine Protestwelle an den Westberliner Hochschulen auslösen.
1990er-/2000er-Jahre Die Freie Universität Berlin verleiht unter Mitwirkung des Lateinamerika-Instituts unter anderem dem brasilianischen Soziologen und Staatspräsidenten Fernando Henrique Cardoso (1995), dem Historiker Friedrich Katz (2002) und dem mexikanischen Schriftsteller Carlos Fuentes (2004) die Ehrendoktorwürde.
2004 Die Mitglieder des Lateinamerika-Instituts überreichen dem Präsidenten der Freien Universität Berlin und dem Berliner Wissenschaftssenator 298 Solidaritätsbriefe und eine Liste mit zahlreichen Unterschriften gegen die zuvor diskutierten Mittel- und Personalkürzungen.
2005 Das Lateinamerika-Institut verliert seine Bibliothek. Der Bestand wird in die neu erbaute Philologische Bibliothek überführt.
2005 Im Zuge der Bologna-Reform treten das 30-Leistungspunkte-Modulangebot „Lateinamerikastudien“ und der Masterstudiengang „Interdisziplinäre Lateinamerikastudien“ in Kraft, der 2016 akkreditiert wird.
2020 Die 50-Jahr-Feiern des Lateinamerika-Instituts sowie der Lehr- und Forschungsbetrieb werden von der weltweiten Coronavirus-Krise überschattet.
Es entwickelte sich zwischen verschiedenen Vertretern und einer Vertreterin aus Wissenschaft, Politik und Kultur ein reger Austausch, in dessen Mittelpunkt die angestrebte Errichtung eines lateinamerikanischen Zentrums in Berlin stand. Dieses sollte die vor Ort bislang getrennt voneinander stattfindenden Initiativen verbinden und zu Lateinamerika lehrende und forschende Personen unter anderem am Romanischen Seminar und am Soziologischen Institut der Freien Universität Berlin sowie im Ibero-Amerikanischen Institut zusammenführen. In Briefwechseln, Gesprächen und Sitzungen konkretisierten die Beteiligten ihre Vorstellungen. In Westberlin, in der Bundesrepublik und in Süd- und Nordamerika nutzten sie ihre Kontakte, um in unterschiedlichen Kontexten Unterstützung für ihr Vorhaben zu erhalten.1
Zentrale Absichten der drei „Gründungsväter“:- Errichtung eines lateinamerikanischen Zentrums in Berlin mit den drei Hauptabteilungen Ibero-Amerikanisches Institut, Forschung und Lehre sowie Austausch mit Lateinamerika
- Förderung der Beziehungen zu Lateinamerika unter anderem durch Gastprofessuren, die Aufnahme von Studierenden, die Kontaktpflege zu Universitäten, die Unterstützung der Regierungen bei Forschungsaufträgen und die Betreuung von Besucherinnen und Besuchern aus der gesamten Region
- Schaffung von Studien- und Arbeitsmöglichkeiten sowohl für Deutsche als auch für Lateinamerikanerinnen und Lateinamerikaner, welche insbesondere an Seminaren, Vorlesungen und Forschungsprojekten teilnehmen sollen, die sich mit ihren Heimatländern beschäftigen
- Aufbau von sechs Lehrstühlen für eine umfassende Ausbildung der Studierenden in verschiedenen Disziplinen
- Angebot kleiner Lehrveranstaltungen, um den Kontakt und die Zusammenarbeit zwischen Studierenden und Lehrenden zu fördern und um lateinamerikanischen Studierenden die Eingliederung in den hiesigen Kulturkreis zu erleichtern
1 Nachlass Hirsch-Weber, Sondersammlungen, IAI SPK, N-0086 b 15, Dok. 10-12, Hirsch-Weber an Bock (13.6.1962).
Der gebürtige Mannheimer Politikwissenschaftler Wolfgang Hirsch-Weber (1920-2004) ist eine der zentralen Persönlichkeiten, die eng mit der Geschichte der Berliner Lateinamerikaforschung verbunden ist. Sein Nachlass, der viele der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland und in Lateinamerika im 20. Jahrhundert widerspiegelt, liegt im Ibero-Amerikanischen Institut. Während persönliche Überlieferungen anderer Akteurinnen und Akteure rar sind, stellen seine zahlreichen Briefwechsel und Schriften eine wesentliche Grundlage dieser Ausstellung dar. Sie geben über seine Netzwerke und seine Interessen Auskunft und zeigen, wie die Regionalforschung seiner Auffassung nach institutionalisiert werden sollte.
Nachdem der Sohn eines jüdischen Journalisten eine kaufmännische Lehre abgeschlossen hatte, floh er in Anbetracht des erstarkenden Nationalsozialismus 1938 nach Bolivien. Dort verbrachte er elf Jahre und arbeitete unter anderem als Lehrer, Buchhalter und später als Direktor einer Bergbaugesellschaft. Im Exil kam er in Kontakt mit anderen Deutschen und engagierte sich in der Vereinigung „Das Andere Deutschland“. 1949 kehrte Hirsch-Weber in das zerstörte Deutschland zurück, trat in die SPD ein, holte in Heidelberg das Abitur nach und studierte dort anschließend Sozialwissenschaften. Bereits während seiner Promotion nahm er eine Tätigkeit am Institut für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin auf. Er befürwortete dort die Gründung eines eigenen Zentrums für die Lateinamerikaforschung und orientierte sich dabei unter anderem am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien. Mit diesem Vorhaben stand er nicht alleine da. Er arbeitete unter anderem eng mit Hans-Joachim Bock, dem Direktor der Ibero-Amerikanischen Bibliothek bzw. seit 1962 des Ibero-Amerikanischen Instituts, und – ungeachtet dessen problematischer Vergangenheit während des Nationalsozialismus – mit dem Romanisten, Sprachwissenschaftler und Balkanologen Günter Reichenkron zusammen.
Hirsch-Weber setzte sein politisches Engagement auch in Berlin fort. Er unterhielt enge Kontakte zu Gewerkschaften und zur SPD und beriet den Regierenden Bürgermeister in außenpolitischen, Lateinamerika betreffenden Angelegenheiten. Darüber hinaus unternahm er Vortrags- und Forschungsreisen nach Lateinamerika und knüpfte dort Kontakte. In Chile war er Ende der 1960er-Jahre Gastprofessor und als Repräsentant der Friedrich- Ebert-Stiftung zugleich Mitbegründer des Instituto de Investigaciones Sociales (ILDIS). Anfang der 1970er-Jahre, kurz nachdem er als einer der Gründungsprofessoren das Lateinamerika- Institut verlassen hatte, nahm er einen Ruf auf eine Professur für Politikwissenschaften an der Universität Mannheim an. In den 1980er-Jahre sollte er noch einmal als Gutachter nach Berlin zurückkehren.
Die Geschichte des Lateinamerika-Instituts ist eng mit der Konfrontation zwischen Osten und Westen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbunden. In diesem Kontext ist auch die Gründung und der über Jahrzehnte währende Sonderstatus der Freien Universität Berlin im Allgemeinen zu betrachten. Angesichts der wachsenden kommunistischen Einflussnahme an der Berliner Universität Unter den Linden forderten 1948 oppositionelle Studierende mit Unterstützung der USA eine von politischer Intervention freie Hochschule im Westsektor der Stadt.
Bereits vor der Gründung des Lateinamerika-Instituts waren sich einige Hochschulangehörige der Bedeutung Lateinamerikas im Kalten Krieg bewusst. 1963, noch unter dem Eindruck der Kubanischen Revolution und dem Berliner Mauerbau, wandte sich ein Professor des bereits an der Universität etablierten Osteuropa-Instituts an seine lateinamerikanischen Kollegen. Diesen gegenüber kommunizierte er das Vorhaben, junge Akademiker aus Lateinamerika für ein dreijähriges, vollständig finanziertes Studienprogramm in Westberlin zu gewinnen. Die Ziele waren klar definiert: Die lateinamerikanischen Studenten sollten vor Ort umfassendes Wissen über den Marxismus und Leninismus erhalten, über die gegenwärtigen und zukünftigen Absichten der kommunistischen Staaten unterrichtet werden und somit Kenntnisse über deren „wahre Situation“ erwerben.2
Hirsch-Weber und andere Unterstützer der Idee eines lateinamerikanischen Zentrums führten ähnliche Argumente an. Seiner Ansicht nach ließen sich lateinamerikanische Studierende durch einen Aufenthalt in Berlin am ehesten für die Konsequenzen des Kalten Kriegs sensibilisieren. Darüber hinaus sah er Parallelen zwischen der Berliner Politik und den Interessen der Parteien in Lateinamerika. Das politische und symbolische Potenzial Westberlins machte er in den 1960er-Jahren in Briefen an hochrangige Staatsvertreter und Parteifreunde deutlich.
Wolfgang Hirsch-Weber stellte 1962 gegenüber dem deutschen Bundespräsidenten Heinrich Lübke und Willy Brandt, seinerzeit Regierender Bürgermeister von Berlin und Vorsitzender des Landesverbands der SPD, die Bedeutung eines in Berlin zu gründenden lateinamerikanischen Zentrums heraus:„Ich darf vielleicht noch hinzufügen, daß ein solches Institut einen eminent politischen Aspekt haben könnte. […] Wenn wir in der Denkschrift vorschlagen, daß alle Lateinamerikaner, die in Deutschland studieren, eingeladen werden, das erste Universitätsjahr in Berlin zu verbringen, dann hat das den gleichen Sinn: sie mit der Berliner Wirklichkeit zu konfrontieren, die ja Gleichnis und schmerzlichstes Erlebnis der deutschen Wirklichkeit ist, sie aber auch in eine Stadt zu führen, in der der Osten und der Westen aufeinandertreffen.“3 „Die Erfahrung lehrt, daß man die ,linksstehenden‘ Besucher aus Lateinamerika, und dies schließt auch die Führer der ,christlich-demokratischen‘ Parteien Südamerikas ein, sehr schnell zu Freunden gewinnt, wenn man ihnen sagt, daß man Sozialdemokrat ist, und daß ihr Verständnis für Berlin besonders deshalb groß ist, weil die Stadt von Sozialdemokraten regiert wird. Schon jetzt sind die fortschrittlichen Gruppen in Lateinamerika außerordentlich einflußreich, und sie werden sicher in wenigen Jahren in der Mehrheit der dortigen Länder regieren. Dies ist ein weiterer Grund, weshalb ich glaube, daß das Zentrum in Berlin errichtet werden sollte.“4
2 FU Berlin, UA, ZI OEI, Nr. 190 a, Abteilung Geschichte, Professoren in Lateinamerika, Philipp u.a. an Grases (2.8.1963).
3 Nachlass Hirsch-Weber, Sondersammlungen, IAI SPK, N-0086 b 15, Dok. 48, Hirsch-Weber an Lübke (17.8.1962).
4 Nachlass Hirsch-Weber, Sondersammlungen, IAI SPK, N-0086 b 15, Dok. 46, Hirsch-Weber an Brandt (17.8.1962).
Die Stadt Berlin entwickelte sich im 20. Jahrhundert zu einem bedeutenden Standort der regionalwissenschaftlichen Forschung. Die Beispiele Maria Sybilla Merians und Alexander von Humboldts verdeutlichen jedoch, dass das Interesse insbesondere an Lateinamerika im deutschen Raum bereits viele Jahre zuvor aufkam. Vor den 1910er- und 1920er-Jahren handelte es sich zunächst um eine weitestgehend sporadische wissenschaftliche Beschäftigung ohne institutionellen Rahmen. Durch das 1930 gegründete Ibero-Amerikanische Institut erhielt die Lateinamerikaforschung in Berlin neue Impulse.
Nach dem Zweiten Weltkrieg und auch bedingt durch die deutsche Teilung verlor das Institut jedoch vorübergehend seine zentrale Position. In der DDR rückten die Regionalwissenschaften Anfang der 1960er-Jahre in den Fokus von Politik und Wissenschaft. Neben der „Sektion Lateinamerikawissenschaften“ der Universität Rostock stellten Leipzig und Ostberlin bedeutende Forschungsstandorte dar. Auch in der Bundesrepublik wuchs die Bedeutung der Area Studies. Die Diskussionen um die Errichtung eines lateinamerikanischen Zentrums in Berlin und schließlich die Gründung des Lateinamerika-Instituts lassen sich in eine Phase weiterer Institutsgründungen in den 1960er-Jahren einordnen.
Berlin und Hamburg befanden sich in diesen Jahren in einem Konkurrenzverhältnis. Sie warben auf Bundesebene gleichermaßen um politische und finanzielle Unterstützung für die regionalwissenschaftliche Forschung. Als sich Anfang der 1960er-Jahre abzeichnete, dass die Hamburger Pläne bereits weit fortgeschritten waren und eine Institutsgründung in der Hansestadt unmittelbar bevorstand, bot Der Tagesspiegel seine Hilfe an. Ein Redakteur erkundigte sich bei den Berliner Initiatoren, ob nun der richtige Zeitpunkt gekommen sei, um einen Bericht über das Vorhaben in Berlin zu veröffentlichen und eine eigene Kampagne zu starten.
Innerhalb der Bundesrepublik entwickelte sich in den 1960er-Jahren ein Wettlauf um die Institutionalisierung der Lateinamerikaforschung, den Berlin für sich entscheiden wollte:„Wenn wir uns nicht beeilen, werden wir von den Hamburgern doch noch aus dem Felde geschlagen.“5
1912 | Deutsch-Südamerikanisches Institut, Aachen |
1917 | Ibero-Amerikanisches Institut, Hamburg |
1922 | Institut für Amerika-Forschung, Universität Würzburg |
1923 | Ibero-Amerikanisches Institut, Bonn |
1930 | Ibero-Amerikanisches Institut, Berlin |
1960 | Forschungszentrum zur Geschichte Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, Universität Leipzig |
1960 | Arbeitskreis Lateinamerika, Humboldt-Universität zu Berlin |
1961 | Iberoamerikanische Abteilung, Universität Rostock |
1961 | Lehrstuhl/ Abteilung für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte, Universität zu Köln |
1962/63 | Institut für Iberoamerika-Kunde, Hamburg |
1963/64 | Abteilung für Latein-Amerika am Romanischen Seminar, Freie Universität Berlin |
1968 | Sektion Lateinamerikawissenschaften, Universität Rostock |
1970 | Zentralinstitut Lateinamerika-Institut, Freie Universität Berlin |
1986 | Zentralinstitut für Lateinamerikastudien, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt |
Bedeutende Institutsgründungen in den zwei Phasen der Institutionalisierung der Lateinamerikaforschung im Deutschen Kaiserreich, in der Weimarer Republik, in der Bundesrepublik Deutschland bzw. in der Deutschen Demokratischen Republik. Aufstellung u.a. in Anlehnung an Wilhelm Lauer, „Deutsche Lateinamerika-Forschung“, in: Hans-Georg Wormit (Hg.), Jahrbuch Preussischer Kulturbesitz 1974/1975, Bd. XII, Berlin 1976, S. 71-86, hier S. 84.
5 Nachlass Hirsch-Weber, Sondersammlungen, IAI SPK, N-0086 b 15, Dok. 104, Hirsch-Weber an Reichenkron (4.10.1963).
Die Institutionalisierung der Berliner Lateinamerikaforschung ist nicht allein vor dem Hintergrund eines Netzwerks wissenschaftlicher und politischer Kontakte innerhalb der Bundesrepublik zu verstehen. Von Interesse sind darüber hinaus bislang kaum bekannte transatlantische Verflechtungen. Renommierte Institute in den USA und in Europa stellten eine zentrale Referenz für das in Berlin zu gründende Zentrum dar. Unter dessen Wegbereitern zirkulierte im August 1962 ein Artikel des International Social Science Journal. Dieser informierte über das Latin American Institute der Columbia University in New York, das kürzlich seine Aktivitäten aufgenommen und insbesondere aus der Perspektive der US-Außenpolitik eine zentrale Bedeutung hatte.6
Die Orientierung an und zugleich die Abgrenzung von bereits bestehenden, sich Lateinamerika widmenden Institutionen waren für die Vordenker in Berlin zentral:„Sicher wird man sich vor der Einrichtung des Zentrums einige ähnliche Institutionen – etwa in Amsterdam, London und Paris – ansehen müssen. Man wird diese Institutionen in einigen Dingen als Vorbild nehmen können, aber man wird auch neue Wege gehen.“7
Die Kontakte zu lateinamerikanischen Einrichtungen waren gleichermaßen relevant. 1964 erfuhr Hirsch-Weber während einer Reise durch Süd- und Nordamerika, dass verschiedene Hochschulen in Chile, El Salvador und Mexiko großes Interesse daran hatten, mit der Berliner Einrichtung einen Austausch auf professoraler und studentischer Ebene zu etablieren. Der mexikanische Präsident und Bildungsminister sagten finanzielle Mittel für die Förderung von Gastdozenten zu. In New York erfuhr Hirsch-Weber zudem, dass mit Frank Tannenbaum einer der bekanntesten Spezialisten für Lateinamerika in den USA bereit sei, als Gastprofessor nach Berlin zu kommen.
In den Diskussionen um die Finanzierung des transatlantischen Austauschs kam die Ford Foundation ins Spiel. Deren Leiter der Abteilung für internationale Angelegenheiten, Shepard Stone, setzte sich in den 1950er- und 1960er-Jahren intensiv für die Förderung der Freien Universität Berlin ein. Hirsch-Weber zufolge habe die Ford Foundation zwar nicht das Gebäude des geplanten lateinamerikanischen Zentrums und dessen Austauschprogramme vollständig finanzieren können, wohl aber habe Stone Mittel für Gastprofessuren nicht ausgeschlossen.8
6 Nachlass Hirsch-Weber, Sondersammlungen, IAI SPK, N-0086 b 15, Dok. 44, Hirsch-Weber an Neumann (2.8.1962).
7 Nachlass Hirsch-Weber, Sondersammlungen, IAI SPK, N-0086 b 15, Dok. 12, Hirsch-Weber an Bock (13.6.1962).
8 Nachlass Hirsch-Weber, Sondersammlungen, IAI SPK, N-0086 b 15, Dok. 108-110, Hirsch-Weber an Pabst (12.2.1964).
Die Diskussionen um die inhaltliche Ausrichtung und die Aufgaben der geplanten Einrichtung sowie deren personelle Ausstattung gingen von Beginn an mit der Frage nach geeigneten Räumlichkeiten einher. Im Januar 1964 wurde zunächst rückwirkend zum 1. Oktober 1963 die Gründung einer Abteilung für Latein-Amerika am Romanischen Seminar der Freien Universität Berlin beschlossen.9 Ziel war es, diese auf lange Sicht zu einem interfakultativen Lateinamerika-Institut auszubauen.10 Nachdem im ersten Jahr verschiedene Räume auf dem Campus in Dahlem mitgenutzt wurden, zog die Latein-Amerika-Abteilung 1965 in eine Villa in der Brucknerstraße in Lankwitz und damit in die direkte Nähe des Ibero- Amerikanischen Instituts, dessen Bibliothek eine wesentliche Grundlage für die Forschung darstellte.11 Gastvorträge und Veranstaltungen fanden in den Räumlichkeiten des Romanischen Seminars in der Ihnestraße 22 oder der Boltzmannstraße 3 statt.12
Vor dem Hintergrund des bevorstehenden Umzugs des Ibero-Amerikanischen Instituts in den neuen Gebäudekomplex im Tiergarten berieten auch die Mitglieder der Latein-Amerika-Abteilung über einen möglichen Standortwechsel. Die enge Zusammenarbeit mit der Partnerinstitution galt es aufrechtzuerhalten. Da Anfragen seitens der Freien Universität Berlin bei der für Stadtplanung zuständigen Behörde erfolglos blieben und kein geeigneter Baugrund im zentralen Berliner Bezirk gefunden werden konnte, nahmen die Verantwortlichen jedoch wieder Abstand von dieser Idee.
Gut ein dreiviertel Jahr nach seiner Gründung zog das Lateinamerika-Institut an den Breitenbachplatz. Die Institutsmitglieder nahmen ihre Tätigkeit im ehemaligen Verwaltungsgebäude der Reichsknappschaft in der Rüdesheimer Straße 54-56 auf, dessen Räume dem ersten Jahresbericht zufolge „zu intensiver Arbeit“ einluden.13 Bis zum heutigen Tage befinden sich in der 2. Etage und im Kellergeschoss des von den Architekten Max Taut und Franz Hoffmann 1929/30 im Stil der Neuen Sachlichkeit errichteten, denkmalgeschützten Bauhaus-Gebäudes die zentralen Lehrveranstaltungsräume und Büros der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Aufgrund der begrenzten Zahl der Räume und der steigenden Zahlen der Beschäftigten und Studierenden kamen seit den 1970er-Jahren wiederholt Debatten um einen möglichen Umzug des Instituts auf. Mitte der 2000er-Jahre schien die Eingliederung des Instituts in die Silberlaube unmittelbar bevorzustehen. Unter anderem die erfolgreiche Einwerbung von Drittmittelprojekten sorgte wenig später jedoch dafür, dass das Lateinamerika-Institut am Breitenbachplatz verblieb und zwei weitere Standorte in der Boltzmannstraße zugesprochen bekam.
9 FU Berlin, UA, R729, Auszug aus dem Protokoll über die 112. Sitzung des Kuratoriums der F.U.B. (9.1.1964).
10 FU Berlin, UA, R729, Schreiben an Rektor Heinitz (25.7.1963).
11 FU Berlin, UA, R729, Pabst an Lüers (22.3.1965).
12 FU Berlin, UA, R729, s. u.a. die Ankündigungen von Vorträgen durch den Direkter der Abteilung (1967).
13 FU Berlin, UA, ZI LAI, Institutsrat 1970-1974, ZI 3 Lateinamerika-Institut, Jahresbericht April 1971 bis März 1972 (zu Händen des Präsidenten der Freien Universität Berlin), S. 3.
Bereits wenige Tage nach der konstituierenden Sitzung sah sich das Lateinamerika-Institut mit einer schwerwiegenden Belastungsprobe konfrontiert, die 1970 und 1971 die Debatten und die weitere Zusammenarbeit bestimmte. Ein vom Kommando Takamaro Tamiya verbreitetes Flugblatt und Meinungsverschiedenheiten zwischen den Institutsmitgliedern und den Statusgruppen riefen einen politisch hochgradig aufgeladenen Konflikt hervor. Dieser bewog vier Personen zum Austritt aus dem damit arbeits- und entscheidungsunfähigen Institutsrat und führte wenig später zum Weggang dreier desillusionierter Gründungsprofessoren. In Anbetracht dieser Geschehnisse entwickelte sich das Lateinamerika-Institut innerhalb und außerhalb der Universität zu einem permanenten Diskussionsgegenstand. Nicht allein im Institutsrat und im Akademischen Senat, sondern auch in der Presse und im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Westberliner Abgeordnetenhauses standen die Ereignisse und die damit verbundenen Wortgefechte wiederholt im Fokus. Die Standpunkte und Erwartungen der Studierenden, Professoren und Assistenten konnten unterschiedlicher kaum sein.
Kritik von Studierenden an einem Professor sowie an anderen Studierenden in einem Flugblatt vom Juni 1970:„Wer zu solcher skrpellosen [sic!] Perfidie fähig und bereit ist, und dabei auf die tatkräftige Unterstützung seiner Mitgangster, der Professorenpigs, rechnen kann, verdient nicht anders behandelt zu werden. Oder glauben diese studentischen Maulhelden immer noch, daß es besser wäre, solch professorale Arschgeigen in Berlin zu halten, um sie hier mit ihren ideologischen Wasserpistolen zu erschießen?“14Auszug aus einem Artikel des Tagesspiegels vom September 1971, der die Gründe für das Verhalten eines Professors darlegt:
„Wenn [ein zunächst aus dem Institutsrat und später aus dem Institut ausgetretener Professor] aber als Sozialdemokrat als ,Agent des Kapitalismus‘ und ,Arbeiterverräter‘ bezeichnet werde und mit denselben Studenten im Institutsrat sitzen müsse, die ihn anpöbelten und seine Lehrveranstaltungen verhinderten, dann sei diese Grundlage [für die Zusammenarbeit in einem kleinen Institut] nicht mehr gegeben.“15Erinnerungen eines wissenschaftlichen Assistenten am Lateinamerika-Institut Anfang der 1970er-Jahre:
„Die Rückkehr der Exilierten – sie alle waren Berliner – verlief konfliktiv. Die Universitätsreform von 1969/70, der sich auch die Gründung des LAI verdankt, nahm ihnen einen Teil ihrer Privilegien. Vor allem aber: das Aufbegehren der Studenten gegen den ,Muff unter den Talaren‘, durchsetzt von revolutionärer Rhetorik, erinnerte die Rückkehrer an die Zeit zuvor, da sie fliehen mußten. […] Zur Verdeutlichung ein Genrebild. Ein Seminar [eines Professors] […] wurde von einigen Studenten umfunktioniert zu einem ,Tribunal‘. […] die Stimmung war aufgeheizt, vergiftet.“16Auszug aus dem Material zur Rede der Berliner Angeordneten und Hochschulpolitikerin Ursula Besser im Rahmen der Begründung der Großen Anfrage der CDU-Fraktion vom Juni 1971, die auf die Situation im Lateinamerika-Institut einging:
„Ein Schlaglicht auf die Gesamtsituation am ZI 3 wirft der Fall [eines Tutors]. Der Institutsrat betraute ihn mit dem Tutorium ,Determinanten des sozio-ökonomischen Entwicklungsprozesses in Lateinamerika‘. [Zwei Professoren] erhoben aus sachlichen und formellen Gründen Einspruch. Sie bezeichnen das Thema als wissenschaftlich nicht vertretbar, [den Tutor] als nicht qualifiziert, weisen auf seine Mitgliedschaft in der Roten Zelle hin und bemängeln das Fehlen eines wissenschaftlich Verantwortlichen, wie er nach § 29 UniG unerlässlich ist.“17Stellungnahme der Versammlung der wissenschaftlichen Mitarbeiter infolge einer Veröffentlichung über die Situation am Lateinamerika-Institut vom August 1971:
„Als Grund für ihren Austritt gaben die Hochschullehrer in allen Fällen den zunehmenden Einfluss linksextremer Kräfte am Institut an. Dieser pauschale Vorwurf ist nie konkret belegt worden und kann nicht belegt werden. Unter den Wissenschaftlichen Mitarbeitern, den Studenten und den Anderen [sic] Dienstkräften besteht eine Vielfalt politischer Meinungen.“18Auszug aus einer im August 1971 verfassten Stellungnahme eines Professors über die Bedeutung des Sozialistischen Arbeitskollektivs Internationalismus (SAKI) am Lateinamerika-Institut:
„Die schrittweise Verwirklichung der langfristigen SAKI-Pläne wird auch mein Nachfolger nicht verhindern können. (Die Linken haben viel Zeit!).“19
14 Nachlass Hirsch-Weber, Sondersammlungen, IAI SPK, N-0086 b 15, Dok. 184, 185, Flugblatt vermutlich vom 24.6.1970.
15 Uwe Schlicht, „Taktisches Geplänkel zu Beginn. Erste öffentliche Sitzung des FU-Untersuchungsausschusses“, in: Der Tagesspiegel (Berlin, 11.9.1971).
16 Auszug aus einer Nachricht von Volker Lühr (28.10.2018).
17 FU Berlin, UA, ZI LAI, Institutsrat 1970-1974, Material zur Rede von Frau Dr. Ursula Besser, MdA (Begründung Große Anfrage der CDU-Fraktion v. 10.6.1971), S. 5.
18 FU Berlin, UA, ZI LAI, Institutsrat 1970-1974, Stellungnahme der Versammlung der wissenschaftlichen Mitarbeiter des Instituts, S. 1.
19 FU Berlin, UA, ZI LAI, Nachlass Otte, Kiste 1, Stellungnahme (29.8.1971), S. 3.
Ohne das Engagement der Studierendenschaft würde das Lateinamerika-Institut in seiner aktuellen Gestalt vermutlich nicht existieren. Kurz nachdem die erste Krise direkt nach der Institutsgründung überwunden schien, ließ die Resolution der studentischen Vollversammlung die Debatten um die Zukunft des Instituts im April 1972 erneut aufleben. Dabei stand der Protest gegen die politische Disziplinierung von Hochschulmitgliedern im Fokus. Die Beteiligten kritisierten nicht allein die Mittelkürzungen für Tutorien, sondern auch die damit verbundene Unterbindung alternativer Lehre, die ihrer Auffassung nach marxistisch und progressiv sein sollte.20
Während die Studierenden bereits Anfang der 1970er-Jahre versuchten, das Lehrpersonal von der Notwendigkeit ihrer Streiks zu überzeugen, gelang ihnen dies 1976 zumindest teilweise. Im Dezember erhielten die Lehrenden vom Militanten Streikrat eine Vorladung zum Streiktribunal. In diesem Zusammenhang erklärten die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einer eigenen Resolution, dass sie die Forderungen der Studierenden nicht allein für gerechtfertigt hielten, sondern diese auch unterstützten. Mit dem Boykott von Lehrveranstaltungen verfolgten die Studierenden in diesem Moment die Absicht, Verbesserungen der Ausbildungsförderung und der Studienbedingungen im Allgemeinen herbeizuführen und gegen die mit dem Grundgesetz unvereinbare politische Überprüfung von Hochschulangehörigen zu protestieren.21
Im Winter 1988/89 sorgte der studentische Aktivismus für einen weiteren Bruch. In diesem Moment brachten die Studierenden in der gesamten Stadt ihre Unzufriedenheit mit vollen Hörsälen, verbesserungswürdigen Studienbedingungen und der vorherrschenden Wohnungsnot über Monate zum Ausdruck. Anlass zu Protesten gaben insbesondere die geplanten universitätsinternen Umstrukturierungen, zu denen am Lateinamerika-Institut der drohende Verlust der Zuständigkeit für das Fach Lateinamerikanistik zählte. Das wollten die Studierenden verhindern.22
Der Einsatz der Studierenden für ihre Belange und die Interessen ihrer Generation sowohl in Berlin als auch in Lateinamerika dauert bis in die heutigen Tage fort. Besonders deutlich stellen dies die jüngsten Solidarisierungsaktionen unter anderem mit den in Ayotzinapa und Nicaragua getöteten und verfolgten Studierenden unter Beweis.
20 FU Berlin, UA, ZI LAI, Institutsrat 1970-1974, Resolution der Vollversammlung der Studenten des Lateinamerika-Zentralinstitut, S. 1.
21 FU Berlin, UA, ZI LAI, Institutsrat 1976-1977, Resolution der wissenschaftlichen Mitarbeiter des Lateinamerika-Instituts (10.12.1976).
22 Reeck, Helga, „,Linke Tendenz‘ ergibt sich aus der Forschung. Die Änderungen am Lateinamerikainstitut waren einer der Auslöser der Studentenproteste“, in: Der Tagesspiegel (Berlin, 28.12.1988).
In den 1970er-Jahren stellten die politischen Konfrontationen und die Militärdiktaturen in verschiedenen Ländern Südamerikas die Mitglieder des Lateinamerika-Instituts vor eine neue Aufgabe. Diese bestand darin, eine der Situation entsprechend angemessene Position sowohl nach innen als auch nach außen zu vertreten. Um 1974 und 1975 entwickelten sich die Debatten zu einem wahren Balanceakt, galt es doch nach Auffassung der Institutsangehörigen angesichts der Entwicklungen vor allem in Argentinien, Brasilien und Chile eine klare Stellung zu beziehen. Wiederholt versuchten sie, sich gegenüber der Universität und der Bundesregierung Gehör zu verschaffen, um den Druck auf die verantwortlichen Personen zu erhöhen.
Zugleich bewegten sich die Institutsmitglieder in einem Spannungsfeld, das durch die internationale Solidarität, die Auffassungen von akademischer Freiheit und den Forderungen nach objektiver Wissenschaft beeinflusst wurde. Die Ankündigung einer Lehrveranstaltung eines Assistenten über argentinische Gewerkschaften im Wintersemester 1975/76 sorgte beispielsweise kurzzeitig für Aufregung. Die gegenwärtige Gewerkschaftsbürokratie hatte dieser als „rechtsgerichtet bis faschistoid“ bezeichnet, was prompt einen Anruf der Rechtsabteilung des Präsidialamts hervorrief. Diese habe rechtliche Bedenken geäußert, da Kommentare zu Lehrveranstaltungen keine ideologischen Inhalte aufweisen dürften.26
Auch in den Folgejahren blieb die Herausforderung bestehen, sich einerseits wissenschaftlich mit den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Lateinamerika von Berlin aus oder auch vor Ort im Rahmen von Dienstreisen und Exkursionen zu beschäftigen. Andererseits musste stets zwischen akademischer Distanz und der deutlichen Positionierung zum Geschehen in verschiedenen Kontexten abgewogen werden.
Begründung des dem Institutsrat des Lateinamerika-Instituts vorgelegten Entwurfs einer Resolution zur Situation in Argentinien und Brasilien vom Oktober 1974:
„Der rechtsradikale Terror hat in Argentinien in den letzten Wochen ein erschreckendes Ausmaß angenommen. […] [Es erscheint aber] – anders als z.B. bei den von der Regierung fast unkontrollierbaren brasilianischen Todesschwadrons [sic!] – nicht aussichtslos, über eine internationale Öffentlichkeit und dem daraus folgenden Druck auf die argentinische Regierung diesem Terror in beschränktem Maße entgegenzuwirken. Jedenfalls betrachtet die in diese Situation gestellte Exkursionsgruppe des Instituts es als seine Pflicht, dieses Mittel mindestens zu versuchen und nicht nur als Zuschauer danebenzustehen.“23Entwurf einer Resolution zur sogenannten Flüchtlingsfrage gerichtet an den Präsidenten der Freien Universität Berlin von Ende 1973:
„Der IR des LAI fordert den Präsidenten der FU auf, bei der Bundesregierung schärfstens gegen diese Verschleppung konkreter Maßnahmen zur Einreise von Flüchtlingen aus Chile in die BRD zu protestieren, die die Opfer der Militärdiktaur [sic!] weiterhin den unmenschlichen Bedingungen in chilenischen Konzentrationslagern und Gefängnissen aussetzt.“24
Der Bericht einer Teilnehmerin der 1974 durchgeführten Exkursion nach Argentinien zum Thema „Die Chancen der 2. Peronistischen Regierung in Argentinien in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft“ stellt gleichermaßen den Spagat zwischen Idealen und Wirklichkeit in den 1970er-Jahren unter Beweis, der auch von den Studierenden gefordert wurde.
Auszug aus einem rückblickend verfassten Bericht einer Studentin über die Argentinien-Exkursion, im Rahmen derer eine Gruppe von acht linksgerichteten Studierenden zwei Tage in einem Gefängnis in Buenos Aires verbringen musste und vergeblich auf Unterstützung der Deutschen Botschaft und der Freien Universität Berlin hoffte:„Staunend erlebten wir die große Stadt Buenos Aires […]. Auf der anderen Seite erlebten wir verstört und empört den Niedergang der argentinischen Demokratie, einer Staatsform, die wir daheim in Deutschland eher verächtlich, aber auch als selbstverständlich betrachtet hatten. […] Um drei Uhr mitten in der Nacht nach der Beerdigungsdemonstration für den ermordeten Rechtsanwalt Silvio Frondizi stürmten mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten in Uniform unser kleines Hotel […] [Nach unserer Rückkehr nach Berlin] […] redeten die Verantwortlichen im LAI auf uns ein, und wir schwiegen in der Folge, kein Gang an die Öffentlichkeit, nicht einmal heftige interne Diskussionen. Wir trauten uns ja selbst nicht mehr, wir so kläglich gescheiterten Revolutionäre, die es gerade mal geschafft hatten, im Gefängnis Lieder zu singen.“25
23 FU Berlin, UA, ZI LAI, Institutsrat 1974-1976, Vorlage für den Institutsrat, Entwurf Resolution (4.10.1974).
24 FU Berlin, UA, ZI LAI, Institutsrat 1970-1974, Beschlußvorlage für den Institutsrat.
25 Annemarie Cordes, Unveröffentlichter, autobiografischer Bericht über die Argentinien-Exkursion des Latein-Amerika-Instituts (LAI) der FU Berlin im Sommer 1974, geschrieben 2016 im Rahmen einer Schreibwerkstatt.
26 FU Berlin, UA, ZI LAI, Institutsrat 1974-1976, Nachrichtliche Aktennotiz eines Assistenten an die Mitglieder des Institutsrats (23.6.1975).
1973 rief der Militärputsch in Chile große Bestürzung und zugleich weitreichende Solidaritätsbekundungen mit den Verfolgten hervor, pflegten doch mehrere Institutsmitglieder besonders enge wissenschaftliche und persönliche Beziehungen zu diesem Land. Für den 25. September 1973 wurde eine außerordentliche Sitzung des Institutsrats angekündigt. In diesem Rahmen diskutierten die Anwesenden den Entwurf einer Stellungnahme.
Die Vertreterinnen und Vertreter des Lateinamerika-Instituts verurteilten 1973 den Sturz Salvador Allendes auf das Schärfste und verlangten Maßnahmen von der Regierung in Bonn:
„Der Institutsrat des Lateinamerika-Instituts der Freien Universität Berlin fordert die Bundesregierung auf:
die Junta der Putschisten nicht anzuerkennen
dem Beispiel anderer Länder zu folgen und dem Gewaltregime keinerlei wirtschaftliche und technische Hilfe zu gewähren
internationale Organisationen zur Wahrung der Menschenrechte zu unterstützen, damit diese in Chile gegen die politische Verfolgung und die Mißachtung des internationalen Asylrechts intervenieren
großzügig Asylrecht und materielle Unterstützung für die von der Militärjunta politisch verfolgten Chilenen und die von Auslieferung bedrohten Lateinamerikaner zu gewähren.“27
Nicht allein im Lateinamerika-Institut, sondern auch im Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften riefen die Geschehnisse in Chile eine umgehende Reaktion hervor. Bereits in seiner Sitzung am 20. September 1973 beschloss der Fachbereichsrat einstimmig die Verurteilung des Terrors gegen die chilenische Bevölkerung. Die Resolution ging jedoch weit darüber hinaus, indem sie eine Umbenennung des Lateinamerika-Instituts anregte.
Auszug aus der Resolution des Fachbereichsrats des Fachbereichs Philosophie und Sozialwissenschaften vom September 1973:„Um die hervorragende Persönlichkeit Salvador Allende, der von gewissenlosen Rechtskräften in den Tod getrieben wurde, durch die Organe der Universität angemessen zu würdigen, schlagen wir vor, dem Lateinamerika-Institut den Namen Salvador-Allende-Institut zu geben.“28
Vier Wochen später stand dieser Vorschlag auf der Tagesordnung der Sitzung des Institutsrats des Lateinamerika-Instituts. Die Idee wurde „in ihrer politischen Absicht“ auch „positiv aufgenommen“, jedoch nicht umgesetzt. Den Institutsmitgliedern zufolge ließe sich die Verwirklichung der darin „ausgedrückten politischen Intention“ der wissenschaftlichen Arbeit nämlich „besser unter der Bezeichnung Lateinamerika-Institut anstreben“.29
Während die öffentlichkeitswirksame Positionierung mit der potenziellen Umbenennung des Instituts ihre Grenzen erreicht hatte, setzten sich dessen Mitglieder für in Chile verfolgte Wissenschaftler ein. Anfang 1974 waren die Verhandlungen mit der Universitätsverwaltung und dem Kanzler bereits fortgeschritten. Dieser hielt es für möglich, weitere aus Chile vertriebene Personen aufzunehmen, sofern es gelänge, sie in die am Lateinamerika-Institut angesiedelten Forschungsprojekte einzubinden. Insbesondere für die Soziologie, die Ökonomie und den Sprachunterricht sollten vor diesem Hintergrund auch neue Beschäftigte gewonnen werden.30
27 FU Berlin, UA, ZI LAI, Institutsrat 1970-1974, Entwurf der Stellungnahme des LAI zum Militärputsch in Chile.
28 FU Berlin, UA, ZI LAI, Institutsrat 1970-1974, Resolution des Fachbereichsrates des Fachbereichs Philosophie und Sozialwissenschaften (20.9.1973), S. 2.
29 FU Berlin, UA, ZI LAI, Institutsrat 1970-1974, Vorlage an den Institutsrat zur Beschlußfassung (19.10.1973).
30 FU Berlin, UA, ZI LAI, Institutsrat 1970-1974, Antrag an den Institutsrat (7.1.1974).
Obwohl der Lehrbetrieb in der Vision der Gründungsprofessoren keineswegs Priorität hatte, lässt sich 50 Jahre später erfreulicherweise feststellen, dass sich das Lateinamerika-Institut zu einem Institut der Studierenden aus aller Welt entwickelt hat. 1962 schwebte Hirsch-Weber jedoch bereits vor, dass eine Gruppe lateinamerikanischer und deutscher Studierender zusammen kleine Vorlesungen und Seminare besuchen solle, da „die bei Lehrveranstaltungen über Lateinamerika behandelten Probleme so wenig erforscht sind, daß man auf eine enge Zusammenarbeit zwischen Dozenten und Hörern hinarbeiten“ müsse.31
Wenige Monate nach der Gründung studierte bereits eine stetig wachsende Zahl junger Menschen am Institut. Diese schrieben sich entweder in einen der beiden Magisterstudiengänge „Lateinamerikanistik“ oder „Altamerikanistik“ ein, besuchten einzelne Lehrveranstaltungen zu Lateinamerika im Rahmen ihres Studiums an den Fachbereichen oder nahmen an den Sprachkursen teil. Der Tagesspiegel berichtete, dass „im Wintersemester 1971/72 ein wesentlich erweitertes und verbessertes Lehrprogramm in eigenen Räumen“ angeboten werden konnte, das 413 Teilnehmerinnen und Teilnehmer wahrnahmen. Zudem habe sich die Studierendenzahl „beträchtlich erhöht“.32 Wurden im Wintersemester 1971/72 erst 25 Lehrveranstaltungen durchgeführt, so liegt die Zahl seit einigen Semestern regelmäßig über 50. Eine intensive Beschäftigung mit Lateinamerika findet seither nicht allein in den Räumen am Breitenbachplatz statt, sondern auch in den zahlreichen Exkursionen, die unter anderem bereits 1971 Lehrende und Studierende zur Untersuchung der Agrarreform nach Chile führten.33
Während fortlaufend mehr Studierende ein Magisterstudium aufnahmen und im Wintersemester 1990/91 die Zahl mit 1.150 Studierenden im Haupt- bzw. in den Nebenfächern einen Höchstwert erreichte, entwickelten verschiedene Institutsmitglieder in den 1980er- Jahren neue Vorschläge zur Gestaltung der Lehre.34 Im Januar 1984 diskutierte der Institutsrat Pläne für ein Aufbaustudium „Pädagogik der 3. Welt“, mit dem unter anderem „arbeitslosen Lehrern nützliche Studienangebote“ ermöglicht werden sollten.35 Genau wie dieser Modellversuch wurde auch ein seinerzeit innovativer studentischer Vorschlag (vorerst) nicht umgesetzt. Im Rahmen eines Autonomen Seminars während des Streiksemesters 1988/89 entwickelte eine kleine Gruppe ein Reformmodell für einen Regionalstudiengang „Lateinamerikastudien“, das auf ein geteiltes Echo stieß. Die Studierenden entwarfen einen Diplomstudiengang mit einer einheitlichen Studienordnung, einem interdisziplinären Lehrangebot und einem integrierten Praxissemester zum Sammeln von Berufs- und Auslandserfahrungen.36 Mit dieser Idee kamen sie der Bologna-Reform zuvor. Während die Magisterstudiengänge allmählich ausliefen, traten zum Wintersemester 2005/06 das 30-Leistungspunkte-Modulangebot „Lateinamerikastudien“ und der Masterstudiengang „Interdisziplinäre Lateinamerikastudien“ in Kraft, der 2013 reformiert wurde.
31 Nachlass Hirsch-Weber, Sondersammlungen, IAI SPK, N-0086 b 15, Dok. 11, Hirsch-Weber an Bock (13.6.1962).
32 „Wieder Hochschullehrer am Lateinamerika-Institut“, in: Der Tagesspiegel (Berlin, 12.11.1971).
33 FU Berlin, UA, ZI LAI, Institutsrat 1970-1974, ZI 3 Lateinamerika-Institut, Jahresbericht April 1971 bis März 1972 (zu Händen des Präsidenten der Freien Universität Berlin), S. 3.
34 Zur Entwicklung der Studierendenzahlen: Lateinamerika-Institut, Tätigkeitsbericht 1989-1990, Berlin 1991, S. 7.
35 Lateinamerika-Institut, Protokoll der 246. Sitzung des Institutsrats vom 31.1.1984, S. 3.
36 Martin Ling, „Reformmodell am Lateinamerika-Institut“, in: Die Tageszeitung (Berlin, 11.1.1990).
Das Geschlechterverhältnis der am Lateinamerika-Institut tätigen Personen sowie die wissenschaftliche Beschäftigung mit Geschlechterverhältnissen unterlagen in den vergangenen gut 50 Jahren einem tiefgreifenden Wandel. In den 1960er-Jahren beteiligten sich – abgesehen von einer Vertreterin der Wissenschaftsabteilung des Berliner Senats – ausschließlich Männer an den Gesprächen um die Gründung eines lateinamerikanischen Zentrums in Berlin. So ist es wenig erstaunlich, dass sie 1962 in den Diskussionen um dessen personelle Ausstattung die Schaffung des Postens eines Verwaltungsdirektors anregten, „der wohl doch ein Mann sein“ müsste.37
Nach der Gründung des Lateinamerika-Instituts bestimmte eine kleine Gruppe von Professoren über die Geschicke des Instituts und die Debatten im Institutsrat. Über die Rolle der zwei ebenso am Institut tätigen Professorinnen sowie der Sekretärinnen ist wenig bekannt. Im Verlauf der 1970er-Jahre nahmen weitere Wissenschaftlerinnen ihre Arbeit am Institut auf. 1977 waren vier der 14 Stellen für Assistentinnen und Assistenten bzw. Lektorinnen und Lektoren von Frauen besetzt. Die Berufung einer Expertin für Geschlechterstudien auf eine Professur für Soziologie läutete 1980 schließlich eine neue Phase ein. In den folgenden Jahrzehnten erhöhte sich der Zahl der weiblichen Beschäftigten in allen Bereichen konstant. Verbunden mit einer engagiert umgesetzten Frauenförderung liegt der Frauenanteil sowohl in der Gruppe der hauptamtlichen Professorinnen und Professoren als auch unter den Bachelor- und Masterstudierenden nunmehr seit einigen Jahren jeweils zwischen 70 und 80 Prozent.
Die Rolle der Frauen in Lateinamerika sowie die Bedeutung von Geschlechterverhältnissen stehen seit ungefähr 40 Jahren im Fokus zahlreicher am Lateinamerika-Institut beschäftigter Personen. In den 1980er-Jahren galt die Aufmerksamkeit vor allem Fragen der Entwicklung und ,Unterentwicklung‘, der Menschenrechte und des Zugangs zu Ressourcen. Seitdem hat sich das Interesse an der Geschlechterforschung, die seit mehr als zwei Jahrzehnten erfolgreich betrieben wird, noch intensiviert. Seit 2005 können sich Masterstudierende auch in einem eigenständigen Profilbereich auf die Beschäftigung mit Geschlechterverhältnissen, Lebensformen und Transformationen spezialisieren und dabei historischen und gegenwärtigen Prozessen, Repräsentationen und Verflechtungen aus unterschiedlichen disziplinären Blickwinkeln auf den Grund gehen.
37 Nachlass Hirsch-Weber, Sondersammlungen, IAI SPK, N-0086 b 15, Dok. 10, Hirsch-Weber an Bock (13.6.1962).
Mitte der 1980er-Jahre musste das Lateinamerika-Institut einen weiteren Umbruch bewältigen, der das Selbstverständnis des Instituts infrage stellte und langfristig über dessen Zukunft bestimmte. Dem 1986 neugefassten Berliner Hochschulgesetz entsprechend sollte es die Zentralinstitute, an denen Personen verschiedener Disziplinen neben ihrer Verbindung mit einem Fachbereich gemeinsam lehren und forschen, in dieser Form nicht mehr geben. Die weitere Existenz des Instituts, das damit die rechtliche Gleichstellung mit den Fachbereichen verloren hätte und die akademische Selbstverwaltung nicht länger hätte mitgestalten können, stand auf dem Spiel. Mitte 1988 diskutierte der Akademische Senat gar über einen Antrag, der auf die Auflösung des Instituts abzielte. Der Ende der Dekade neu gewählte Berliner Senat gestaltete die Hochschulpolitik schließlich um und schuf damit die rechtlichen Grundlagen für die erneute Gleichstellung von Fachbereichen und Zentralinstituten.38
Nicht allein die rechtlichen Rahmenbedingungen beeinflussten in diesen Jahren das Schicksal des Instituts. Im Februar 1985 besuchte der Westberliner Senator für Wissenschaft und Forschung das Institut, dessen professorale Ausstattung und Verbesserung der Lehr- und Forschungsbedingungen im Allgemeinen er von den Empfehlungen einer einzuberufenden Kommission abhängig machen wollte. Das achtköpfige internationale Expertengremium, zu dessen Mitgliedern auch Hirsch-Weber zählte, besuchte in der Folge das Institut und legte Anfang 1986 einen Bericht vor. In ihren „Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Forschung und Lehre über Lateinamerika an der Freien Universität Berlin“ bezog sich die Kommission auf die in den frühen 1960er-Jahren thematisierten Vorstellungen eines lateinamerikanischen Zentrums. Die Kritik am Zentralinstitut in seiner gegenwärtigen Form fiel angesichts dessen vernichtend aus: „Das Institut ist seinem Ziel und seiner Aufgabe insgesamt nicht gerecht geworden. Die Kommission fand bei den Mitarbeitern des LAI weder eine die Institutsarbeit tragende, verbindende Gesamtkonzeption noch ein nach außen wahrnehmbares institutionelles Selbstverständnis. Forschung und Lehre wirken eklektisch.“
Eine „ersatzlose Schließung“ des Zentralinstituts hielt die Kommission allerdings für „bedauerlich und verfehlt“. Sie schlug stattdessen die Neugründung einer mit über 20 Professuren überaus gut ausgestatteten Forschungseinrichtung vor, die den Namen „Alexander von Humboldt-Institut“ tragen sollte.39 Die Finanzierungsgrundlage für ein solches Institut war jedoch nicht gegeben.
Die Frankfurter Rundschau berichtete über die Vorfälle rund um das Lateinamerika-Institut und titelte:„Der heutige Gutachter verließ einst das Institut im Zorn. Beim Berliner Senat fiel das Lateinamerika- Institut an der Freien Universität in Ungnade. Kommission vermißt Konzeption.“Die Zeitung veröffentlichte auch eine Aussage des damaligen Institutsratsvorsitzenden, nachdem die Vorlage der „Empfehlungen“ der sogenannten Kewenig-Kommission unter den Institutsmitgliedern für Beunruhigung gesorgt hatte:
„Man wird weder die Stirn haben, dieses Institut, da[s] inzwischen ja auch so etwas wie ein eigenes Profil entwickelt hat und in Lateinamerika zum Teil sehr große Anerkennung genießt, zu schließen, noch werden Senat und FU-Präsident den Mut haben, es zu fördern.“40
38 Lateinamerika-Institut, Tätigkeitsbericht 1989-1990, Berlin 1991, S. 4.
39 „Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Forschung und Lehre über Lateinamerika an der Freien Universität Berlin“ vorgelegt von acht Kommissionsmitgliedern, S. 3, 17.
40 Marion Lucke, „Der heutige Gutachter verließ einst das Institut im Zorn“, in: Frankfurter Rundschau (Frankfurt am Main, 8.1.1987).
Die zweite Hälfte der 1980er-Jahre stellt eine überaus turbulente Phase der Institutsgeschichte dar. Die hochschulrechtlichen Veränderungen, die potenzielle Umgestaltung des Instituts infolge des Berichts der Expertenkommission und die Mobilisierung der Studierenden waren in dieser Zeit prägend.
Völlig unerwartet ereilte das Lateinamerika-Institut im Oktober 1988 der Beschluss des Kuratoriums der Freien Universität Berlin, ihm das Fach Lateinamerikanistik einschließlich der Verantwortung für die Planung und Durchführung der Lehre zu entziehen. Diese Entscheidung stellte eine Bedrohung für das gesamte Institut dar, dessen weitere Existenz damit auf dem Spiel stand. Die Studierenden reagierten umgehend und bestreikten über Monate die Lehrveranstaltungen am Lateinamerika- Institut. Zusammen mit Kommilitoninnen und Kommilitonen anderer Institute, die von ähnlichen Beschlüssen des Kuratoriums betroffen waren, besetzten sie innerhalb kürzester Zeit den Großteil der Institute der Freien Universität Berlin und wenig später weitere Westberliner Hochschulen. Gemeinsam forderten sie die Rücknahme der Entscheidungen und eine umfassende Demokratisierung der Hochschulen. Über ein Semester kam der Lehrbetrieb am Lateinamerika-Institut zum Erliegen. Zahlreiche Studierende zogen mit ihren Zahnbürsten in das besetzte Institut und gestalteten Diskussionsrunden und Autonome Seminare. Es kam zu einer vorläufigen Aufschiebung der Beschlüsse. Die Hochschulpolitik des neuen Westberliner Senats sorgte 1989 dafür, dass sich die Lage allmählich entspannte.
Die aufregenden Monate hinterließen unter den Mitgliedern des Lateinamerika-Instituts sowie in der Öffentlichkeit einen bleibenden Eindruck. Ende Dezember 1988 veröffentlichte Der Tagesspiegel einen Beitrag über die Studierendenproteste, in dem die Rolle des Lateinamerika-Instituts im Fokus stand. Für die Zerschlagung des Instituts gebe es offenbar keinen sachlichen Grund. Der Artikel legte vielmehr nahe, dass der Kuratoriumsbeschluss auf eine geplante Umstrukturierung in einem von ,Linken‘ geprägten Bereich der Universität zurückzuführen sei. Diese „Tendenz“ ergebe sich „bei der Lateinamerikanistik fast zwangsläufig aus dem Forschungsobjekt“, hieß es in der Presse.41 Dem Institut und seinen Studierenden eilte jedoch nicht allein dieser Ruf voraus. Legendär sind auch die zahlreichen Fiestas vor allem der 1980er- und 1990er-Jahre, die Erzählungen zufolge zu den besten der gesamten Universität zählten.
41 Helga Reeck, „,Linke‘ Tendenz ergibt sich aus der Forschung“, in: Der Tagesspiegel (Berlin, 28.12.1988).
Zu Beginn des neuen Jahrtausends sah sich der Berliner Senat zu umfangreichen Sparmaßnahmen gezwungen. Die Berliner Hochschulen sollten die Mittel- und Personalkürzungen besonders hart zu spüren bekommen. Ein weiteres Mal musste das Lateinamerika-Institut einen Umbruch meistern. Die Ausstattung des Instituts sollte erheblich reduziert werden, Professuren drohten wegzufallen und ein Angebot an grundständiger Lehre schien nicht länger umsetzbar zu sein. Die Mitglieder des Instituts erkannten in den angekündigten Veränderungen eine deutliche Einschränkung der akademischen Infrastruktur, eine nicht hinnehmbare Schädigung der Reputation und eine Gefahr für die engen Beziehungen zwischen Lateinamerika und dem traditionsreichen Standort Berlin. In dieser kritischen Situation erhielt das Institut Beistand von Personen und Institutionen, die sich für den Erhalt des Instituts in dessen gegenwärtiger Form einsetzten. Die Unterstützung war so überwältigend, dass die Mitglieder des Lateinamerika-Instituts im Januar 2004 dem Präsidenten der Freien Universität Berlin und dem Wissenschaftssenator von Berlin 298 Solidaritätsbriefe und eine Liste mit weiteren knapp 300 Unterschriften gegen die im Vorfeld diskutierten Kürzungen überreichen konnten.
Zwischen Dezember 2003 und Januar 2004 wurde im Rahmen einer Solidaritätsaktion eine Vielfalt an – aus heutiger Sicht erfolgreichen – Argumenten für den Erhalt des Lateinamerika-Instituts formuliert.42„Im Rahmen unserer Proteste gegen diese Kürzungsmaßnahmen führen die Studierenden des LAI eine breite Unterstützungskampagne durch, in der wir WissenschaftlerInnen, Intellektuelle und SchriftstellerInnen, die einen Bezug zu unserem Institut und/ oder Berlin haben, bitten, sich durch Appellbriefe für das LAI einzusetzen.“
„Der Lehrstuhl Wirtschaftswissenschaft am LAI war für mich ein optimaler Stützpunkt für meine Fortbildung […]. Seit Anfang 2003 diene ich der Regierung des Präsidenten Lula als Sekretär für Sozialversicherung. Mir ist sehr deutlich, dass diese grossen Chancen der Mitwirkung nur aufgrund der Kenntnisse, die ich in Berlin erwerben konnte, möglich sind.“
„Als Forscher und Intellektuelle haben wir die Rolle des Instituts nicht nur als Ausbildungs- und Forschungseinrichtung schätzen gelernt, sondern auch als Treffpunkt für diejenigen von uns, die sich für die deutsch-lateinamerikanischen Beziehungen interessieren.“
„I appeal to you to investigate whether this standard has been applied or whether there simply is a methodology that says the institutionmust save costs by replacing faculty of long standing and high reputation (and therefore high salaries) with those of lesser reputation and lower salaries. Such a ,coerce to the bottom‘ will in the end harm the FU more than it will help.“
42 Auszüge aus den drei Bänden „Eingegangene Unterschiften im Rahmen der Solidaritätsbriefe-Aktion für das Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin (Dezember 2003 – Januar 2004)“.
Nach der Überwindung der Krise von 2004 durchlebte das Lateinamerika-Institut eine Phase der Neuerfindung. Die Kritikerinnen und Kritiker, die dem Institut einst eine mangelnde Zusammenarbeit zwischen Disziplinen und das Fehlen eines gemeinsamen Projekts vorgeworfen hatten, galt es nun vom Gegenteil zu überzeugen. Inmitten eines Generationenwechsels unter den Professorinnen und Professoren bestand die Aufgabe der überwiegend neuberufenen Mitglieder darin, in kurzer Zeit ein Konzept vorzulegen, das alle Fächer miteinander in den Dialog bringt und die Zukunft des Instituts in Forschung und Lehre sichert. Zentral waren fortan die gemeinsam geführten Debatten unter anderem um Lateinamerikas Weg in eine ,andere Moderne‘ und Lateinamerika in seinen globalen Verflechtungen. Parallel dazu intensivierten die Institutsmitglieder die Kontakte vor allem zu Universitäten und Forschungseinrichtungen in Lateinamerika, mit denen sie weitere Abkommen abschlossen und gemeinsam Forschungsprojekte vorantrieben. Innerhalb der Freien Universität Berlin erlangte die Zusammenarbeit mit und zwischen den Regionalwissenschaftlerinnen und Regionalwissenschaftlern in diesen Jahren fortlaufend mehr Bedeutung. Insbesondere im Zusammenhang mit der Exzellenzinitiative erhielt das Lateinamerika-Institut aufgrund seiner regionalen Expertise und der internationalen Vernetzung Ende der 2000er-Jahre viel Aufmerksamkeit. Auch in der Nachwuchsförderung wurden neue Wege eingeschlagen. 2008 richtete das Institut den interdisziplinären Promotionsstudiengang „Lateinamerikastudien aus vergleichender und transregionaler Perspektive“ unter dem Dach der Dahlem Research School ein.
Eine Phase des wissenschaftlichen Erfolgs und des Aufbruchs in der Geschichte des Instituts begann schließlich 2009 mit der Eröffnung des deutsch-mexikanischen Graduiertenkollegs „Entre Espacios“, das auch das erste von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte internationale Graduiertenkolleg mit Partnerinnen und Partnern in Lateinamerika war. Im Rahmen des Kollegs widmeten sich die Mitglieder über neun Jahre Fragen der sozial- und geisteswissenschaftlichen Globalisierungsforschung, förderten mehr als 160 Promovierende und Postdocs in Berlin/ Potsdam und Mexiko und organisierten 2014 mit dem AHILA-Kongress die bisher größte wissenschaftliche Veranstaltung zu Lateinamerika in Deutschland mit mehr als 1.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Kurz nach der Bewilligung des Graduiertenkollegs warben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weitere große Drittmittelprojekte ein, die bis heute zur Konsolidierung des Instituts in den internationalen Netzwerken der interdisziplinären Lateinamerikaforschung beitragen. In der Folgezeit nahmen zahlreiche große Drittmittelprojekte wie das Kompetenznetzwerk „desiguALdades.net“, das Verbundprojekt „MISEAL“, das Programm „trAndeS“, das Kolleg „Mecila“ und das Graduiertenkolleg „Temporalities of Future“ in den wenig später zum Lateinamerika-Institut hinzugekommenen Standorten, den Villen in der Boltzmannstraße 1 und 4, ihre Tätigkeit auf.
2022 schaut das Institut auf über 50 Jahre der Aufbrüche und Umbrüche zurück. Die turbulenten Zeiten, in denen die Existenz des Instituts bedroht war und in denen das Selbstverständnis infrage gestellt wurde, gehören der Vergangenheit an. Es hat seinen Platz in der Universität und in der internationalen Wissenschaftslandschaft gefunden. Die Institutsmitglieder feiern im Rahmen verschiedener Veranstaltungen und des Jubiläumsfestakts mit zahlreichen Alumni und sich dem Institut verbunden fühlenden Personen das gemeinsam Erreichte und blicken in eine vielversprechende Zukunft.
Das Lateinamerika-Institut heute in Zahlen
über 350 Studierende im Bachelormodulangebot und im Masterstudiengang (2020) |
10 hauptamtliche Professorinnen und Professoren (2021) |
über 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im wissenschaftlichen und wissenschaftsunterstützenden Bereich (2021) |
24 Abschlüsse am Lateinamerika-Institut betreuter Promotionen (2019) |
über 100 durchgeführte Lehrveranstaltungen im WiSe 2019/20 und SoSe 2020 |
knapp 30 Abkommen mit lateinamerikanischen Universitäten bzw. Forschungseinrichtungen (2020) |
über 160 erfasste Publikationen (2019) |
10 laufende, am Lateinamerika-Institut angesiedelte Drittmittelprojekte mit mind. drei beteiligten Institutsmitgliedern (2020) |
Platz 1 in der Rangliste der höchsten Drittmitteleinwerbungen an der Freien Universität pro Kopf der Professorinnen und Professoren |
Uta Keseling und Joachim Fahrun haben an der FU Berlin studiert. Zum 75. Uni-Geburtstag schreiben sie über ihre Uni-Erlebnisse.
Morgenpost-Reporterin Uta Keseling studierte mit Unterbrechungen von 1988 bis 1994 Germanistik und Italianistik an der FU, Abschluss: Magistra Artium.
Reporterin Uta Keseling
Wer an der FU studiert hat, weiß: Zur DNA dieser Uni gehört auch der Protest. So gesehen hatten auch die Flugblätter, die beim Festakt am Donnerstag im Henry-Ford-Bau auf die Gäste herabsegelten, fast schon etwas von Folklore. Meine prägendste Erinnerung ans Studium an der FU war der 10. November 1989. Ich saß im Lyrikseminar eines beliebten Professors, als eine von etwa 100 Studenten. Weil die FU in diesen Jahren hoffnungslos überfüllt war – rund 56.000 Studenten waren eingeschrieben, war es ein Glück, wenn man einen Platz ergattert hatte.
Der Professor fragte uns fassungslos, warum wir an diesem historischen Tag überhaupt in die Uni gekommen waren. Wir sollten doch später an die Mauer gehen, oder wenigstens zum Schöneberger Rathaus. Dort sprach unter anderem Helmut Kohl, wo ich auch hinfuhr – um mich im dröhnenden Studenten-Protest gegen Kohl und die Wiedervereinigung wiederzufinden.
Die traditionell „linke“ Studentenschaft der FU war immer auch bereit zu Protesten. Ende der 1989er-Jahre ging es um Dinge wie überfüllte Hörsäle und bessere Chancen für Frauen im Wissenschaftsbetrieb. Der Protest richtete sich gegen die CDU-dominierte „Strukturkommission“. Hauptgegner der Proteste war der damalige FU-Direktor Dieter Heckelmann (CDU), der später Innensenator wurde. Die Protestierenden gingen wenig subtil vor.
Gebäude wurden mit Piratenflaggen, Parolen und Plakaten behängt und besetzt, Seminarräume zu politisch korrekten Studenten-Cafés umfunktioniert. Wer studieren wollte, wurde beschimpft – da war sozusagen die Elterngeneration der heutigen Klimakleber am Werk.
Studenten bekamen die „Berlinzulage“
Der Protest weitete sich auf viele Unis aus. Die Besetzung des „Lenné-Dreiecks“ nahe dem Potsdamer Platz wurde zum Aufreger. Die damalige Brache lag aber westlich der Mauer, war aber DDR-Areal und sollte für den Bau einer Schnellstraße getauscht werden. Studenten besetzten das Gelände mit Zelten und Holzhütten. Die Räumung ging in die Geschichte ein, weil einige Besetzer mit Leitern über die Mauer nach Ost-Berlin flohen.
1988 waren gut 56.000 Studenten an der FU eingeschrieben (heute 35.700).
Es lockten nicht nur freie Wissenschaft und Lehre. West-Berlin war für junge Männer attraktiv, die wegen des Vier-Mächte-Status hier dem Wehrdienst entgehen konnten. Die eingemauerte Stadt lockte Studenten darüber hinaus mit der „Berlinzulage“, die auch Arbeitnehmer bekamen. Wer als Student jobbte, bekam acht Prozent obendrauf. Für die Jobvermittlung war an der FU die Agentur „Heinzelmännchen“ zuständig.
An der Technischen Universität (TU) hieß das Pendant „Tusma – TU Studenten machen alles“. Gejobbt wurde auf dem Bau, auf Messen, In Kaufhäusern und gern in den Villen der Professoren. Edel zu wohnen war keine Frage des Geldes. Nach dem Mauerfall fanden die Demonstranten andere Betätigungsfelder, etwa bei den Hausbesetzungen in Ost-Berlin. Und man konnte sich wieder der Lyrik und Literatur widmen.
Morgenpost-Chefreporter Joachim Fahrun studierte an der FU Lateinamerikanistik, Volkswirtschaft und Geschichte von 1988 bis 1994, Abschluss: Magister Artium.
Joachim Fahrun, Chefreporter
Ich hatte nach ein paar Umwegen 1988 gerade mein Studium an der FU aufgenommen, da war Widerstand angesagt. Es hieß, die Universitätsleitung und die „bösen Romanisten“ wollten unser Lateinamerika-Institut schließen. Da rollten wir kurzerhand die Isomatten aus und besetzten das Institut. Aus dieser Aktion entwickelte sich der große Uni-Streik, der Berlin und ganz Deutschland erfasste.
Mit Megafon zogen wir durch die anderen Fakultäten, wiesen auf miese Studienbedingungen hin, auf veraltete Inhalte und überfüllte Seminare, bis sich selbst die Wirtschaftswissenschaftler und Juristen dem Streik anschlossen. Lehrreicher als alle späteren Seminare waren die Versuche der Selbstorganisation. Autonome Seminare widmeten sich bis dahin kaum beachteten Themen wie der Konzentration wirtschaftlicher Macht, Aktionen wurden verabredet, im „Inhaltsrat“ diskutiert, was Ziel des „Uni-Muts“ sein sollte.
In der Rostlaube mit einem langhaarigen, komplizierten Philosophen
Weil linke Studis auch damals schon viel redeten, vom Hundertsten ins Tausendste kamen und überhaupt die ganze Welt aus den Angeln heben wollten, fand ich mich schließlich am Tag vor einer großen Demo mit einem langhaarigen, klugen, aber eher komplizierten Philosophen in der Rostlaube wieder und formulierte mit ihm die zehn Forderungen, die wir Politik und Öffentlichkeit präsentieren wollten.
Mehr Personal, mehr selbstbestimmtes Lernen, mehr interdisziplinäre Angebote über die Fächergrenzen hinweg. Die gab es am Lateinamerika-Institut schon Ende der 1980-er Jahre. Und später bildeten die Regionalwissenschaften eine Grundlage für den Status der FU als Exzellenzuniversität. Insofern hat es sich auch für die Hochschule gelohnt, dass wir aktiv geworden sind und uns gewehrt haben.