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75 JAHRE FU. Reporter berichten: Das erlebten wir an der FU Berlin

Dieser Artikel erschien zuerst am 04.06.2023 in der Berliner Morgenpost (M+).

  

Uta Keseling und Joachim Fahrun haben an der FU Berlin studiert. Zum 75. Uni-Geburtstag schreiben sie über ihre Uni-Erlebnisse.

Morgenpost-Reporterin Uta Keseling studierte mit Unterbrechungen von 1988 bis 1994 Germanistik und Italianistik an der FU, Abschluss: Magistra Artium.

Reporterin Uta Keseling

Wer an der FU studiert hat, weiß: Zur DNA dieser Uni gehört auch der Protest. So gesehen hatten auch die Flugblätter, die beim Festakt am Donnerstag im Henry-Ford-Bau auf die Gäste herabsegelten, fast schon etwas von Folklore. Meine prägendste Erinnerung ans Studium an der FU war der 10. November 1989. Ich saß im Lyrikseminar eines beliebten Professors, als eine von etwa 100 Studenten. Weil die FU in diesen Jahren hoffnungslos überfüllt war – rund 56.000 Studenten waren eingeschrieben, war es ein Glück, wenn man einen Platz ergattert hatte.

Der Professor fragte uns fassungslos, warum wir an diesem historischen Tag überhaupt in die Uni gekommen waren. Wir sollten doch später an die Mauer gehen, oder wenigstens zum Schöneberger Rathaus. Dort sprach unter anderem Helmut Kohl, wo ich auch hinfuhr – um mich im dröhnenden Studenten-Protest gegen Kohl und die Wiedervereinigung wiederzufinden.

Die traditionell „linke“ Studentenschaft der FU war immer auch bereit zu Protesten. Ende der 1989er-Jahre ging es um Dinge wie überfüllte Hörsäle und bessere Chancen für Frauen im Wissenschaftsbetrieb. Der Protest richtete sich gegen die CDU-dominierte „Strukturkommission“. Hauptgegner der Proteste war der damalige FU-Direktor Dieter Heckelmann (CDU), der später Innensenator wurde. Die Protestierenden gingen wenig subtil vor.

Gebäude wurden mit Piratenflaggen, Parolen und Plakaten behängt und besetzt, Seminarräume zu politisch korrekten Studenten-Cafés umfunktioniert. Wer studieren wollte, wurde beschimpft – da war sozusagen die Elterngeneration der heutigen Klimakleber am Werk.

Studenten bekamen die „Berlinzulage“

Der Protest weitete sich auf viele Unis aus. Die Besetzung des „Lenné-Dreiecks“ nahe dem Potsdamer Platz wurde zum Aufreger. Die damalige Brache lag aber westlich der Mauer, war aber DDR-Areal und sollte für den Bau einer Schnellstraße getauscht werden. Studenten besetzten das Gelände mit Zelten und Holzhütten. Die Räumung ging in die Geschichte ein, weil einige Besetzer mit Leitern über die Mauer nach Ost-Berlin flohen.

1988 waren gut 56.000 Studenten an der FU eingeschrieben (heute 35.700).

Es lockten nicht nur freie Wissenschaft und Lehre. West-Berlin war für junge Männer attraktiv, die wegen des Vier-Mächte-Status hier dem Wehrdienst entgehen konnten. Die eingemauerte Stadt lockte Studenten darüber hinaus mit der „Berlinzulage“, die auch Arbeitnehmer bekamen. Wer als Student jobbte, bekam acht Prozent obendrauf. Für die Jobvermittlung war an der FU die Agentur „Heinzelmännchen“ zuständig.

An der Technischen Universität (TU) hieß das Pendant „Tusma – TU Studenten machen alles“. Gejobbt wurde auf dem Bau, auf Messen, In Kaufhäusern und gern in den Villen der Professoren. Edel zu wohnen war keine Frage des Geldes. Nach dem Mauerfall fanden die Demonstranten andere Betätigungsfelder, etwa bei den Hausbesetzungen in Ost-Berlin. Und man konnte sich wieder der Lyrik und Literatur widmen.

Morgenpost-Chefreporter Joachim Fahrun studierte an der FU Lateinamerikanistik, Volkswirtschaft und Geschichte von 1988 bis 1994, Abschluss: Magister Artium.

Joachim Fahrun, Chefreporter

Ich hatte nach ein paar Umwegen 1988 gerade mein Studium an der FU aufgenommen, da war Widerstand angesagt. Es hieß, die Universitätsleitung und die „bösen Romanisten“ wollten unser Lateinamerika-Institut schließen. Da rollten wir kurzerhand die Isomatten aus und besetzten das Institut. Aus dieser Aktion entwickelte sich der große Uni-Streik, der Berlin und ganz Deutschland erfasste.

Mit Megafon zogen wir durch die anderen Fakultäten, wiesen auf miese Studienbedingungen hin, auf veraltete Inhalte und überfüllte Seminare, bis sich selbst die Wirtschaftswissenschaftler und Juristen dem Streik anschlossen. Lehrreicher als alle späteren Seminare waren die Versuche der Selbstorganisation. Autonome Seminare widmeten sich bis dahin kaum beachteten Themen wie der Konzentration wirtschaftlicher Macht, Aktionen wurden verabredet, im „Inhaltsrat“ diskutiert, was Ziel des „Uni-Muts“ sein sollte.

In der Rostlaube mit einem langhaarigen, komplizierten Philosophen

Weil linke Studis auch damals schon viel redeten, vom Hundertsten ins Tausendste kamen und überhaupt die ganze Welt aus den Angeln heben wollten, fand ich mich schließlich am Tag vor einer großen Demo mit einem langhaarigen, klugen, aber eher komplizierten Philosophen in der Rostlaube wieder und formulierte mit ihm die zehn Forderungen, die wir Politik und Öffentlichkeit präsentieren wollten.

Mehr Personal, mehr selbstbestimmtes Lernen, mehr interdisziplinäre Angebote über die Fächergrenzen hinweg. Die gab es am Lateinamerika-Institut schon Ende der 1980-er Jahre. Und später bildeten die Regionalwissenschaften eine Grundlage für den Status der FU als Exzellenzuniversität. Insofern hat es sich auch für die Hochschule gelohnt, dass wir aktiv geworden sind und uns gewehrt haben.