Wem gehoert die Metropole?
Urbane Praktiken, Aneignungen und imaginarios in und von Mexiko-Stadt
Als vertigo horizontal, als horizontalen Schwindel, hat der Schriftsteller Juan Villoro das Gefühl beschrieben, das Mexiko-Stadt bei Besuchern und Betrachterinnen auslöst. Während die meisten Megacities dieser Welt als „Asphaltdschungel“ imaginiert werden, der scheinbar endlos in die Höhe verdichtet ist, wird Mexiko-Stadt eher als „Meer“ oder „Wüste“ gedacht, als grenzenlose Ausdehnung, die immer wieder den eigenen Horizont überschreitet. Eine Stadt, die Villoro zufolge Angst, Schwindel oder auch Hysterie erzeugt, Zersplitterung, Verunsicherung und Verlorenheit. Ewige Baustelle, Erdbebengebiet und Labyrinth, das nur mithilfe von „Ritualen des Chaos“ (Carlos Monsiváis) überleben kann und deren Bewohner vor ihrer undurchdringlichen Topographie längst zu kapitulieren scheinen. Und doch, allen katastrophistischen Metaphern zum Trotz: Die Megastadt wird offenbar dennoch bewohnt und gestaltet, umkämpft und verhandelt, zugleich ist sie selbst das Produkt der Bilder, Praxen und Aneignungen ihrer Nutzerinnen und Bewohner. Einigen davon wollten wir – eine zwölfköpfige, interdisziplinäre Forschungsexkursion des Lateinamerika-Instituts, die sich im Oktober 2007 auf den Weg zu einer mehrwöchigen Stadterkundung gemacht hat – auf die Spur kommen.
Warum Mexiko-Stadt? Seit den frühen 1990er Jahren ist die mexikanische Hauptstadt ein beliebtes Experimentier- und Forschungsfeld für eine zunehmend disziplinübergreifende, kulturwissenschaftliche und qualitative Stadtforschung. Die Stadt gilt dabei als Paradigma für die Dimensionen von (Mega-)Urbanität: zum einen gewinnt sie als so genannte Global City und ökonomischer Kreuzungspunkt an Bedeutung, zum anderen ist die postkoloniale Megastadt historisch, aber auch politisch und kulturell ein überkodierter und hochverdichteter Raum, in dem verschiedene Zeiten, Kulturen und Logiken koexistieren. Im Mittelpunkt unserer Exkursion stand die Untersuchung des metropolitanen Stadtraums als komplexer öffentlicher Raum, der im städtischen Alltag, in politischen Ausnahmezuständen und auch in künstlerischen Interventionen immer wieder neu angeeignet, „überschrieben“ und damit letztlich „produziert“ wird.
Forschung als Reise – Reise als Forschung: eine Stadterkundung
Bei der Forschung im Feld Mexiko-Stadt ging es vor allem um zwei Dimensionen der städtischen Raumproduktion: um Raum als Konflikt in umkämpften (primär materiellen) Räumen und um Raum als Bild und Erfahrung in den (primär immateriellen) Räumen der Stadt. Unter der ersten Frage untersucht wurden der Kampf der StraßenverkäuferInnen im Stadtzentrum, die Gedenk-und Protestdemonstrationen zum Jahrestag des Massakers von Tlatelolco, indigene Rechtsstrategien sowie die Kämpfe gegen den Verlust indigener Sprachen im Stadtraum. Im zweiten Block, der sich mit urbanen Bildproduktionen beschäftigt, ging es um Performance, künstlerische Interventionen und fotographische Inszenierungen, die den Stadtraum nicht nur als Bühne, sondern auch als Material nutzen, um Stadtbilder von Hausangestellten und die Frage nach der „Multikulturalität“.
So unterschiedlich wie die Methoden aus dem weiten Feld der qualitativen Stadtforschung waren, die bei den Recherchen zum Einsatz kamen (darunter Beobachtung, Fotografie, Filmen, Interviews, Karthographie, Archivrecherche), so unterschiedlich sind auch die Formate, die in der Verarbeitung dieser Stadt- und Forschungserfahrung erprobt wurden. So entstand ein Reigen von Erzählungen, der thematisch und formal zwar denkbar weit gespannt ist, aber doch gemeinsame Bezugspunkte aufweist: nämlich die Frage, wem wann und wie genau welche “Metropole” gehört, wer sie sich aneignet und welche Spannungen und Konflikte dabei entstehen.
Den BesucherInnen dieser Seite wünschen wir viel Vergnügen.
Anne Huffschmid