Maya
Die Hochkultur der Maya übt zweifellos eine unglaubliche Faszination auf viele Menschen unserer Zeit aus. Seit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die lebendigen Beschreibungen einiger Ruinenstädte durch John Lloyd Stephens und die sie begleitenden Zeichnungen seines Partners Frederick Catherwood das Interesse an dieser „wiederentdeckten“ Kultur in breiten Teilen der USA und Europas weckte, scheint die Neugier auf die im tiefsten Dschungel verschollenen Reste dieser einstigen Zivilisation ungebrochen. Der endgültige Durchbruch in der Entzifferung der schriftlichen Hinterlassenschaften vor etwa 50 Jahren gab erneut Impulse, den lange Zeit für unlösbar geglaubten Mysterien auf die Spur zu kommen.
Das ehemalige Gebiet der Maya umfasst im heutigen Mexiko die Halbinsel Yukatan, die Bundesstaaten Tabasco und Chiapas, weiterhin das gesamte Gebiet Guatemalas und Belizes, sowie Teile von Honduras und El Salvador. Die unterschiedlichen Vegetations- und Klimazonen der Mayaregion lassen sich grob in nördliche Tief- und südliche Hochländer einteilen. Letztgenannte zeichnen sich durch hohe Bergketten und Vulkane aus. Viele der heute vom Urwald überwucherten Ruinenstätte lagen zur Zeit der Maya in flachen, von Menschenhand gestalteten unbewaldeten Landschaften.
Die Blütezeit der Maya, die sogenannte Klassik, wird allgemein auf die Zeit zwischen 250 und 900 n.Ch. datiert. Die Anfänge der Mayakultur werden aber bereits im zweiten Jahrtausend v. Ch. vermutet. Die letzte Phase der Mayakultur, die sogenannte Postklassik, endete mit der Ankunft der Spanier im 16. Jahrhundert.
Die Hochkultur der Maya war durch ein komplexes Gesellschaftssystem mit seinen Ritualen und Götterwelten, riesigen Bauten, wie Pyramiden und Ballspielplätzen, beeindruckenden Fähigkeiten und Kenntnissen in der Kunst, der Medizin und der Astronomie, ein raffiniertes Zahlensystem, das bereits die Zahl „Null“ kannte, und ein komplexes Schriftsystem ausgezeichnet. Die Maya erschufen eine weit entwickelte Kultur, und dies, obwohl sie weder über Lasttiere noch über Kenntnisse von Metallverarbeitung und Radnutzung verfügten.
Mais, Bohnen und Kürbisse ermöglichten die optimale landwirtschaftliche Nutzung ihres Ackerbaulandes und lieferten der Bevölkerung eine höchst nahrhafte Mischung an Lebensmitteln. Diese Landwirtschaft war die Basis der Kultur der Maya, der „Maismenschen“, die einen bedeutenden Bevölkerungsanstieg ermöglichte. Auch der Kakao spielte eine wichtige Rolle. Er war für zeremonielle Feierlichkeiten der Elite von hoher Bedeutung und war eine so begehrte Handelsware, dass Kakaobohnen als Währung dienten.
Die Maya der präkolumbischen Zeit waren in mehr oder weniger autonomen Stadtstaaten organisiert, deren Oberhäupter die sogenannten k’uhul ajaw waren, die „göttlichen Herrscher“. Bisweilen Jahrhunderte lang andauernde Rivalitäten unter den Dynastien prägten die politischen Verflechtungen dieser Stadtstaaten, inklusive Kriegen, Bündnissen, dem System von untergeordneten Vasallenstadtstaaten und einer Heiratspolitik, die der europäischer Herrschaftshäuser nicht unähnlich war. Besonders ein Konflikt zwischen den beiden vom Bonner Altamerikanisten Nikolai Grube und dem Briten Simon Martin als „Superstaaten“ bezeichneten Stadtstaaten prägte die gesamte Mayawelt in der Klassik mit nachhaltiger Wirkung auf alle Mayastädte: Der Konflikt zwischen Calakmul und Tikal.
Nach dem Fall bzw. deutlichen Machteinbußen beider „Superstaaten“ begann die letzte, augenscheinlich instabilere Phase der Klassik. Im entstandenen Machtvakuum sahen viele Stadtstaaten nun ihre Chance zum Aufstieg. Die verheerende Folge waren Kriege, Aufstände, Hungersnöte, Bodenerosionen, längere Trockenzeiten und weitere Naturkatastrophen. Die destabilisierte Gesellschaft brach schließlich in sich zusammen. Ein Rückgang der Bevölkerung und ihrer Bautätigkeit, prägten nun das Bild. Die letzte auf Monumenten festgehaltene Datumsangabe stammt aus Tonina, im heutigen Bundesstaat Chiapas, und erwähnt, umdatiert auf unsere Zeitrechnung, das Jahr 919 n.Ch.. Geografisch fand in der Zeit eine Verlagerung des Mayabevölkerungszentrums vom Peten-Gebiet in Guatemala nach Yukatan in Mexiko statt. Die neuen Zentren der Postklassik hießen nun Chichen Itza und später Mayapan. Dieser Prozess, der irreführend als „Mayakollaps“ bezeichnet wird, ebnete den Weg für grundlegende Gesellschafts- transformationen, die weniger hierarchisch organisierte Gesellschaften hervorbrachten – die Zeit der „göttlichen Herrschaftstümer“ verschwand endgültig.
Diese transformierte Mayagesellschaft existierte bis zur Ankunft der Spanier zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Eingeschleppte Krankheiten und Kriegszüge gegen die Maya führten 1697 mit dem Fall der letzten unabhängigen Mayabastion Tayasal, der heutigen Stadt Flores in Guatemala, zum Untergang dieser einzigartigen Kultur. Die von den Spaniern systematisch durchgeführte Zerstörung kultureller Hinterlassenschaften der Mayazivilisation, insbesondere die organisierten massenhaften Bücherverbrennungen, wie die durch Bischof Diego de Landa auf Yucatan, zielten darüber hinaus darauf ab, das geschriebene Wissen und die Erinnerung der einstigen Hochkultur auszulöschen. Der Vernichtungszug war jedoch nicht vollständig; die Mayakultur überlebte die Conquista durch die Spanier. Ein Teil ihrer Kultur, ihrer Sitten und Gebräuche existiert weiter. Heute gibt es noch etwa sechs Millionen Mayasprachige Indigene, auch wenn sich die über dreißig heutigen Mayadialekte teilweise erheblich vom klassischen Maya unterscheiden und manches vielleicht für immer verloren ging. Die Wiederentdeckung dieses verloren geglaubten Kulturguts stellt eine der spannendsten Aufgaben heutiger Altamerikanisten dar.
Yan Daniel Geoffroy