Corpus Christi Prozessionen
Eine wichtige Neuerung des 16. Jahrhunderts war die Reorganisation der kolonialen Städte durch die Spanier in Gemeinden zur einfacheren Kontrolle der indigenen Bevölkerung. Hierfür etablierten sie indigene Autoritäten, denen sie den vorspanischen Titel kazike verliehen, und die den Gemeinden vorstehen sollten. Einige waren Günstlinge der Spanier, andere beriefen sich auf ihre Abstammung von regionalen oder lokalen vorspanischen Herrschern. Um ihre privilegierte soziale und politische Position innerhalb der kolonialen Gesellschaft zu festigen, war es für die Kaziken unerlässlich, sich als Hauptakteure auf christlichen Festen zu zeigen, um so ihren neuen Glauben und ihren Einsatz für die Kolonialmacht zu demonstrieren. Die Spanier waren in der alten Inkahauptstadt Cuzco und im restlichen Hochland Perus besonders auf die Kaziken als Vermittler zwischen ihnen und der indigenen Bevölkerung angewiesen und gestatteten ihnen daher, anders als im stark durch Spanier geprägten Lima, die Teilnahme an öffentlichen Festen. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts gewann in Cuzco besonders die in Europa seit dem Mittelalter gern zelebrierte Feier der Eucharistie an Bedeutung. Hierbei wurde der Fleischwerdung des Leibes Jesu (Corpus Christi) in der Kommunion gedacht. Als Beleg für das Stattfinden solcher Feste in Amerika und als Beweis der Teilnahme spezifischer Personen wurden Gemälde angefertigt und zum König nach Spanien gesandt.
Die berühmteste peruanische Gemäldeserie mit der Darstellung einer Fronleichnamsprozession wurde Ende des 17. Jahrhunderts für die Hauptkirche der indigenen Gemeinde Santa Ana, vor den Toren Cuzcos, angefertigt. Doch auch andere Serien und Gemälde mit Szenen aus der Prozession zeigen eine hauptsächlich idealisierte christliche Kolonialgesellschaft.
Das vorliegende Gemälde aus einer Privatsammlung in Lima erscheint veristischer und detailreicher als die Santa Ana Serie. Zu sehen sind die bedeutendsten indigenen Gemeinden Cuzcos, wie sie kurz vor Beginn der Feierlichkeiten mit ihren Heiligenstatuen auf dem barock anmutenden Hauptplatz der Stadt eintreffen. Auszumachen sind hier die Statuen der den indigenen Gemeinden namensgebenden Heiligen: die Heilige Anna, der Heilige Hieronymus und der Heilige Blasius auf der einen Seite, und auf der anderen Seite der Heilige Sebastian, der Heilige Christopherus, der Heilige Santiago (hier als Santiago Matamoros), die Vírgen de la Candelaria und die Vírgen de Belén, die von zivilen Autoritäten und Vertretern diverser militärischer Orden begleitet werden.
Vor der deutlich erkennbaren Kathedrale im linken Bildhintergrund stehen der Erzbischof und die ihn begleitenden Domherren. Neben diesen sehen wir die Studenten der Universität von San Antonio Abad mit ihren roten Schärpen. Im rechten Bildhintergrund erscheint die Iglesia de la Compañía de Jesús mit den Studenten des Colegio Real de San Bernardo mit den blauen Schärpen und Mützen.
Auf dem unteren Teil des Bildes erscheint das Volk, bestehend aus Indigenen, Mestizen, Afrikanern, sowie den Angehörigen der verschiedenen christlichen Orden. Sie alle sind als Mitwirkende oder Zuschauer an der Festivität beteiligt und verdeutlichen dabei auch die Vielschichtigkeit der kolonialen Gesellschaft.
Dem aufmerksamen Betrachter fällt besonders eine zwischen den Statuen des Heiligen Christopherus und der des Heiligen Sebastian laufende Gruppe von indigenen kurakas in ihrer traditionell inkaischen Kleidung ins Auge. Die indigene Oberschicht forcierte zur Festigung ihres sozialen Status eine "Inka-Renaissance" (spanisch: renacimiento inca), die sich hauptsächlich in der Bildenden Kunst und im Theater zeigte. Neben der sonstigen Kleidermode helfen besonders diese inkaischen Elemente bei der Datierung des Bildes. Das Gemälde muss vor dem Aufstand von Tupac Amaru II., im Jahre 1781, gemalt worden sein, da es der indigenen Bevölkerung nach dessen Niederschlagung verboten war, zu öffentlichen Anlässen inkaische Kleidung zu tragen.
Peggy Goede